© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/23 / 25. August 2023

Bevor England die Fronten wechselte
Vor 125 Jahren einigten sich Großbritannien und das Deutsche Reich auf die Aufteilung des kolonialen Erbes Portugals / Vertrag wurde nie umgesetzt
Matthias Bäkermann

Benjamin Disraeli, Englands großer außenpolitischer Stratege, war nach dem Berliner Kongreß 1878 völlig eingenommen von seinem deutschen Gegenüber Otto von Bismarck. Noch wenige Jahre zuvor offenbarte er großes Mißtrauen gegenüber der von Bismarck gesteuerten „deutschen Revolution“, die zum Leiden Englands „das Gleichgewicht der Macht völlig zerstört“ habe. Nachdem aber der polyglotte „Bizzy“ seinen die Konferenzsprache Französisch nur radebrechenden britischen Kollegen „Dizzy“ – so taufte das Magazin Illustrated London News das neue außenpolitische Gespann – geschmeidig durch den Kongreß lotste und in der Balkanfrage glaubwürdig den „ehrlichen Makler“ verkörperte, hatte Berlin beim Außenministerium am Londoner Whitehall reichlich Kredit erworben. 

Auch sechs Jahre später, als 1884 an der Spree die Kongokonferenz stattfand, um die europäischen Interessen in Afrika neu zu regeln und zu sortieren, konnte Bismarck diesen Ruf festigen, obwohl zu diesem Zeitpunkt das Deutsche Reich bereits erste Claims in Südwest- und Ostafrika abgesteckt und dort Schutzgebiete beansprucht hatte. Bismarcks Interesse an der Kolonialpolitik blieb dominiert von innenpolitischen und europäischen Strategien. Geschickt konnte er britische und französische Interessengegensätze abfedern, Nutznießer blieben allein der belgische König Leopold II., der mit dem rohstoffreichen Kongo faktisch seinen Privatstaat bekam – und die „alte“ Kolonialmacht Portugal.

Portugal wurde als traditionelle Kolonialmacht in Frage gestellt 

Bereits auf der Kongokonferenz wurden jedoch erste Stimmen laut, die den Anspruch auf Kolonien nur in der „Ausübung von realer Kontrolle und Herrschaft anstatt historischer Verbindungen“ sahen. Damit wurde Portugals seit Vasco da Gamas Zeiten bestehendes Kolonialreich in Frage gestellt. Portugal litt zudem unter immer größeren wirtschaftlichen Problemen, war innenpolitisch zerrüttet und geriet zunehmend in Abhängigkeit ausländischer Mächte. Die in Lissabon 1887 großspurig formulierten Ansprüche, über den „Plan der rosa Landkarte“ seine afrikanischen Besitzungen in Mosambik und Angola territorial zu verbinden, scheiterten am energischen Widerstand Englands. 

Dieser wiederum führte zu britisch-deutschen Verhandlungen, die am 30. August 1898 im „Angola-Vertrag“ mündeten. Die Kolonien des durch einen Staatsbankrott 1891 weitgehend gelähmten Portugals sollten zur Begleichung seiner gigantischen Schulden von Deutschland und Großbritannien als gemeinsames Anleihepfand verwaltet und bei zu erwartender Zahlungsunfähigkeit schlichtweg aufgeteilt werden. Zentralangola und Südmosambik sollten an Großbritannien, Süd- und Westangola sowie Nordmosambik und Portugiesisch-Timor dem deutschen Kolonialbesitz zufallen. Zusätzlich sicherte Berlin den Briten zu, den gerade aufflammenden Krieg der Buren in Südafrika gegen Großbritannien nicht zu unterstützen und von der zuvor in der „Krüger-Depesche“ 1896 formulierten Parteinahme für die Burenrepubliken Oranje-Vrystaat und Transvaal Abstand zu nehmen.

Der „Angola-Vertrag“ sollte jedoch niemals umgesetzt werden. England hatte statt dessen – vertragsbrüchig – bereits ein Jahr später mit Portugal den geheimen, dem Deutschen Reich erst 1913 offenbarten „Windsor-Vertrag“ abgeschlossen, in dem London Portugal gegen militärische Durchgangsrechte die Erhaltung seines Kolonialbesitzes garantierte. Tatsächlich hatte der von der deutschkritischen Londoner Clubkultur massiv beeinflußte König Edward VII. gleich nach seiner Thronbesteigung 1901 einen für alle sichtbaren Strich mit allen bisherigen deutsch-englichen Übereinkommen gemacht. Seinen ersten offiziellen Besuch stattete der eifrige Protektor der nach 1904 gegen das Deutsche Reich gerichteten britisch-französischen „Entente Cordiale“ demonstrativ dem portugiesischen Hofe ab, wo er die „unangetastete Aufrechterhaltung“ der beiderseitigen Kolonialreiche als „teuersten Wunsch“ bezeichnete.