© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/23 / 25. August 2023

Auf den Kanzler kommt’s nicht an
Bundesregierung: Kein Zoff mehr im Kabinett, gelobt Olaf Scholz vor der Sommerpause. Von wegen – es geht genauso weiter
Paul Rosen

In der als „Fortschrittskoalition“ angetretenen Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP werden die Zentrifugalkräfte immer stärker. Minister blockieren sich gegenseitig, Kanzler Olaf Scholz fehlt die Kraft zum Durchgreifen. Nachdem die Folgen von Russen-Boykott und Inflation mit Geldspritzen bekämpft wurden, was zwar teuer, aber nicht besonders wirkungsvoll war, schlitterte die Wirtschaft in die Rezession. Finanzminister Christian Lindner (FDP) verspricht, mit einem Wachstumsbeschleunigungsgesetz die deutsche Wirtschaft aus der internationalen Schlußlichtposition herausholen zu wollen. Prompt fällt ihm die grüne Familienministerin Lisa Paus in den Rücken und legt im Kabinett ein Veto gegen das Gesetz ein, weil Lindner angeblich die von Paus geforderte Kindergrundsicherung blockiert. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, daß beide Seiten mit gezinkten Karten spielen und sich nur noch bei ihrer Klientel in Szene setzen.

Am vergangenen Mittwoch wollte sich Lindner gerne als Retter der deutschen Wirtschaft präsentieren und sein Wachstumsgesetz erläutern. Der Presseauftritt war fest geplant und öffentlich angekündigt. Doch Lindner mußte absagen, weil Paus die notwendige Zustimmung im Kabinett verweigerte. Übrigens nicht zum ersten Mal: Bereits im Frühjahr mußte Lindner die Vorstellung seines Haushaltsplanes 2024 und der Finanzplanung absagen. Paus hatte Lindner damit als schwachen Politiker vorgeführt. Frühere Generationen liberaler Minister wie Hans-Dietrich Genscher oder Otto Graf Lambsdorff hätten sich keinesfalls als „Lame Duck“ (lahme Ente) des Kabinetts vorführen lassen – und das noch von einer Ministerin, für deren Geschäftsbereich Ex-Kanzler Gerhard Schröder den Begriff „Familie und das ganze Gedöns“ prägte.

Paus spielte nämlich ein falsches Spiel. Die Kindergrundsicherung kommt in Lindners Etatentwurf für 2024 gar nicht vor, weil ihre Einführung erst ab 2025 vorgesehen ist. In der mittelfristigen Finanzplanung hat Lindner ab 2025 zwei Milliarden Euro eingetragen. Irgendeine rechtliche Wirkung oder Verbindlichkeit hat diese Zahl nicht. Die Finanzplanung der Regierung ist nichts als gedruckte und unverbindliche Schönfärberei. 

„Erst erwirtschaften, was verteilt werden kann“

Paus sah jedoch die Kindergrundsicherung als gefährdet an, sollte es dafür nur zwei Milliarden geben. Dabei läßt sich erst bei Vorlage eines Gesetzentwurfs sagen, wie viel Steuergeld für das grüne Lieblingsprojekt fällig wird. Doch einen Gesetzentwurf hat Paus bis heute nicht vorgelegt. Es soll nur Planungen verschiedener Varianten geben, die bis zu zwölf Milliarden Euro jährlich kosten könnten. Daß Paus ohne eigenen Gesetzentwurf Lindner zum zweiten Mal ein Bein stellte, zeugt von grüner Hybris und liberaler Schwäche.

Doch auch Lindners Gesetzentwurf ist nicht der Wachstumsbeschleuniger, für den ihn der Minister verkauft. Aus den versprochenen Entlastungen von 6,5 Milliarden Euro werden bei näherem Studium des Referentenentwurfs null Euro in diesem Jahr. Dabei hätte die Wirtschaft eine kurzfristige Entlastung bitter nötig. Im kommenden Jahr sollen es rund 1,6 Milliarden Euro werden und 2025 knapp fünf Milliarden Euro. Erst 2026 kommt die Entlastung mit 6,3 Milliarden in die Nähe der von Lindner verbreiteten 6,5 Milliarden. Von einem „klitzekleinen Reförmchen“ spricht daher auch der Arbeitgeberverband Nordmetall. Daß die Koalition sich aber nicht einmal darauf habe verständigen können, sei eine „absolute Katastrophe“.

Was Lindner im Gepäck hat, sind in erster Linie verbesserte Abschreibungsbedingungen, wobei SPD und Grüne eine von ihm geplante höhere Rückübertragung von Verlusten auf Vorjahre verhinderten. Es soll auch eine Investitionsprämie geben, aber nur für „grüne“ Investitionen, was die Wirkung stark begrenzt. Ein Teil der Maßnahmen wirkt mehr niedlich als wirkungsvoll: So soll die vollständige Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter (zum Beispiel Computer) bis zu 1.000 Euro möglich werden. Bisher sind es 800 Euro. 

Die Erhöhung gleicht vielleicht die Inflation aus, mehr nicht. Und nicht einmal einen Inflationsausgleich will Lindner Arbeitnehmern gewähren, die auf Dienstreise sind. Trotz explodierender Kosten in der Gastronomie und einer dort bevorstehenden Mehrwertsteuererhöhung für Speisen wird die sogenannte Verpflegungskostenpauschale von 28 auf nur 30 Euro erhöht. Bei Tagesreisen steigt der Satz von 14 auf 15 Euro – und alles erst ab nächstem Jahr. Und die Steuererhöhung auf Kraftstoffe ab 2024 bleibt bestehen.  

Trotzdem führen die Berliner Politiker ein Theater auf, als ginge es um eine Steuerreform mit hoher zweistelliger Milliardenwirkung. Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki warf Paus vor, „dumm“ gehandelt zu haben. FDP-Parlamentsgeschäftsführer Johannes Vogel meinte zu der Grünen, sie habe den Kern der Sozialstaatlichkeit nicht verstanden: „Erst muß erwirtschaftet werden, was verteilt werden kann.“ Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, hielt dagegen: „Die Kindergrundsicherung ist das wichtigste sozialpolitische Projekt dieser Legislaturperiode. Da muß sich endlich was bewegen.“

Kanzler Scholz versicherte, das Wachstumsgesetz werde auf einer Kabinettsklausur noch im August beschlossen werden. Dies versprach er auf einem Unternehmertag in Nordrhein-Westfalen, wo der Kanzler – ungewöhnlich für so eine Honoratiorenveranstaltung – zunächst wegen Pfiffen und Buhrufen nicht zu Wort kam. In der Tat weisen Umfragen eine große Enttäuschung über den Kanzler und eine Regierung aus, die es zwar noch schafft, einen Gesetzentwurf zur Freigabe von Cannabis-Drogen zu beschließen, aber sich nicht auf kleinste Hilfen für die Wirtschaft verständigen kann. 





Prioritäten gesetzt

Übersprungshandlungen sind jedem Schulkind bekannt. Wer sich nicht entscheiden kann, ob er zuerst die Deutsch- oder die Mathehausaufgaben machen soll, macht keine von beiden und kaut stattdessen auf dem Bleistift herum. Das Kabinett Scholz macht im Prinzip das gleiche, nur etwas eleganter. Wenn sich SPD, Grüne und FDP nicht verständigen können, welche der zahlreichen Krisen sie zuerst angehen, beschließen sie lieber Gesetze, die alle selbsternannten „Fortschritts“-Koalitionäre dufte finden; also alles, was gesellschaftspolitisch „modern“, und alles, was „gegen Rechts“ ist. Zwei-Prozent-Ziel der Nato jährlich im Haushalt festschreiben? Nein, frühstens ab 2024, die Grünen hatten etwas dagegen. Dafür trotz Warnungen von Experten die teilweise Cannabis-Freigabe. Und dieser Tage auch das „Selbstbestimmungsgesetz“. Ob Frau oder Mann, entscheidet nicht die Biologie, sondern jeder selbst. Einfache Selbstaus­kunft beim Standesamt abgeben, Vorname oder Geschlechtseintrag im Personen­standsregister ändern, fertig. Genauso schnell wiederum können Soldaten aus der Bundeswehr fliegen, sollten Zweifel an ihrer Verfassungstreue bestehen. Künftig alles im Rahmen eines raschen Verwaltungsverfahrens (JF 20/23), den langen Weg über unabhängige Gerichte will man sich schenken. Sollen sich die Betroffenen doch wieder einklagen, wenn sie – ohne Gehalt – können. (vo)