© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/23 / 11. August 2023

Das deutsche Trauma
Im Sommer 1923 galoppierte die Geldentwertung zunehmend in Richtung Hyperinflation
Bruno Bandulet

Historiker kennen das Ende, die Zeitgenossen nicht. Als im November 1918 die Waffen schwiegen, konnte niemand in Deutschland ahnen, daß die kriegsbedingte und seit jeher für Kriege typische Teuerung innerhalb von fünf Jahren zur Hyperinflation eskalieren und im vollständigen Ruin der Währung enden würde. Nur im Rückblick erscheint das Drama als selbsterklärend und nahezu zwangsläufig. Schließlich kannten die Bürger des Kaiserreichs in den vier Jahrzehnten der Goldwährung zwar vorübergehende Preissteigerungen ebenso wie Preisrückgänge, aber keine dauerhafte, system-immanente Inflation. Noch 1905 widmete Herders Konversations-Lexikon dem Phänomen lediglich fünf Zeilen und definierte Inflation als eine „in den Vereinigten Staaten künstliche Preissteigerung durch Vermehrung der Kreditmittel“. 

Selbst die in der Reichsbank verantwortlichen Geldpolitiker hatten Mühe, zu verstehen, was vor ihren Augen ablief. Die Experten stritten sogar darüber, ob die Geldmengenausweitung die Ursache der Inflation sei oder ob umgekehrt die Geldvermehrung durch die Inflation erzwungen werde. Tatsächlich wurde, ein paradoxer Umstand, ausgerechnet in der Hyperinflation das Geld knapp. Denn die Preise stiegen schneller als frisches Geld gedruckt werden konnte, so daß die reale Geldmenge nicht zu-, sondern abnahm. Die Papierfabriken waren ausgelastet, und schließlich liefen 1.783 Notenpressen in 133 Druckereien Tag und Nacht, ohne die Nachfrage decken zu können. Die Wände mit Geldscheinen zu bekleben war billiger als die Anschaffung einer Tapete. Nichts illustriert das Trauma der Deutschen anschaulicher als die Waschkörbe, mit denen die Banknoten befördert wurden.

Vom Zeitpunkt des Waffenstillstands am 11. November 1918 bis zur Unterzeichnung des Versailler Diktats am 28. Juni 1919 waren die Großhandelspreise deutscher Inlandswaren um dreißig Prozent gestiegen. Das war noch dem Geldmengenwachstum der Kriegszeit geschuldet. In Frankreich und Italien, beide Siegermächte, fiel die Teuerung in dieser Phase sogar heftiger aus. Ab dem Sommer 1919 bis zum Frühjahr 1920 beschleunigte sich die Geldentwertung im Reich, und doch ließen sich viele täuschen, als sich die Mark von April 1920 bis Mai 1921 stabilisierte, die Großhandelspreise zurückgingen und die ausländischen Spekulanten wieder Vertrauen in die deutsche Währung faßten. „Es war keineswegs so“, urteilte die Deutsche Bundesbank im Rückblick auf die frühen zwanziger Jahre, „daß das Reich die Dinge treiben ließ“. Es seien „geradezu heroische Anstrengungen“ unternommen worden, um an zusätzliche Steuereinnahmen zu kommen und der „Pumpwirtschaft“ Einhalt zu gebieten.

Genau läßt sich nicht feststellen, ab wann die Inflation vollständig außer Kontrolle geriet – wahrscheinlich schon im Sommer oder Herbst 1922, mit Sicherheit aber nach der Ruhrbesetzung im Januar 1923 durch französische Truppen. Denn der passive Widerstand mußte von der Reichsregierung und diese wiederum von der Notenbank finanziert werden. Bereits im Juni 1923 wurden über achtzig Prozent der kurzfristigen Reichsschuld (ohne Staatsanleihen) von der Reichsbank gehalten. Nur noch ein Bruchteil der Staatsausgaben wurde durch reguläre Einnahmen gedeckt, der Großteil durch neue Verschuldung. 1919 war das Ausmaß der später von den Siegermächten auferlegten Reparationen noch nicht absehbar, 1922 und 1923 überstiegen die tatsächlich geleisteten Summen die gesamten Steuereinnahmen Deutschlands. Das Reich inflationierte auch deswegen, weil es ausgeplündert wurde.

Massenverarmung des deutschen Mittelstandes war die Konsequenz

Der Kollaps der Mark spiegelte nicht nur die Hyperinflation, er befeuerte sie geradezu. Nachdem sich der Kurs bis April 1923 noch einmal vorübergehend stabilisiert hatte, wurden schon im Juli mehr als 100.000 Mark für einen US-Dollar gezahlt. Danach wertete die Mark in rasendem Tempo ab bis auf 4,2 Billionen am Höhe- und Endpunkt der Inflation am 20. November 1923. Während die Firmen in Dollar rechneten, schaute der Verbraucher auf den Brotpreis: Im Januar 1923 kostete der Laib in Berlin 250 Mark, im Juli 3.465 und im November 201.000.000.000 Mark. Da hatte Deutschland die gebräuchliche Definition einer Hyperinflation, nämlich eine monatliche Preissteigerung von fünfzig Prozent, längst hinter sich gelassen.

Wie bei allen größeren und kleineren Inflationen, auch bei der derzeitigen und der in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, mußten exogene Schocks und geldpolitische Fehlentscheidungen und Zwänge zusammenkommen. Eine monokausale Erklärung greift zu kurz. Exogen waren vor hundert Jahren der verlorene Krieg und seine Folgen, die horrenden Reparationsforderungen und die Ruhrbesetzung. Und doch war auch diese Inflation wie alle anderen im Kern ein monetäres Phänomen: Die Staatsschulden liefen aus dem Ruder, die Zentralbank finanzierte die Regierung, die Zinsen blieben unter der Inflationsrate und damit real negativ, die Geldmenge expandierte und mit ihr die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Geld, vor allem ungedecktes Geld, ist immer eine Sache des Vertrauens. Schwindet es, sinkt es auf Null, naht das Ende.

Mit einer Parallelwährung und einer neuen Art von Deckung kehrte im November 1923 das Vertrauen zurück. Die Idee stammte von Karl Helfferich, Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, der Name „Rentenmark“ von Reichsfinanzminister Hans Luther. Dazu wurde am 15. Oktober 1923 als Institut neben der Reichsbank die Deutsche Rentenbank gegründet. Im November begann sie mit der Ausgabe von Rentenbankscheinen. Sie wurden von der Bevölkerung akzeptiert, weil der Umlauf begrenzt war und weil die Rentenmark durch eine Grundschuld der Landwirtschaft und der Industrie zugunsten der Bank und damit indirekt durch reale Werte gedeckt war. Die Währungshüter hatten überdies den klugen Einfall, den Dollarkurs am 20. November beim Stand von 4,2 Billionen Mark einzufrieren. Damit konnte eins zu eine Billion umgestellt werden. Der Dollar kostete wieder 4,20 Mark wie vor 1914. Ende der Inflation.

Obwohl kein gesetzliches Zahlungsmittel, erfüllte die Rentenmark als Parallelgeld anstandslos ihren Zweck. Sie wurde erst im Zuge der Währungsreform von 1948 endgültig abgeschafft. Die entwertete Papiermark verschwand nicht sofort, noch im Februar 1924 wurde eine solche Banknote im Nennwert von 100 Billionen gedruckt. Den juristischen Schlußstrich unter die Hyperinflation zog das Währungsgesetz vom 30. August 1924. Neue Währungseinheit in Nachfolge der goldgedeckten Mark des Kaiserreichs wurde die Reichsmark. Wie schon im Fall der Rentenmark gab es eine Reichsmark für eine Billion alte Mark. 

Ebenfalls 1924 zog erstmals ein nationalsozialistisches Parteienbündnis in den Reichstag ein. Und zehn Jahre nach dem Schicksalsjahr 1923 übernahmen die Nationalsozialisten die Regierung. Zwangsläufig war auch die Machtergreifung nicht. Ohne Versailles und die Reparationen, ohne die als Zivilisationsbruch empfundene Hyperinflation von 1923 und die Verarmung des Mittelstandes und ohne das Massenelend der Depression nach 1929 wäre den Deutschen der 30. Januar 1933 erspart geblieben.