© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/23 / 21. Juli 2023

Familienpolitik mit der Steuerschraube
Kinder zählen nicht
Konrad Adam

Auch diesmal lief es so wie meistens. Um den verhaßten Sparauflagen des gelben Finanzministers zu entkommen, hatte die grüne Familienministerin Lisa Paus ihre Absicht bekundet, das Elterngeld abzuschmelzen. Das rief den SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil auf den Plan, und der gab nicht eher Ruhe, bis er die eine Torheit durch eine andere überboten hatte. Anstatt beim Elterngeld zu sparen, will er das Ehegattensplitting abschaffen.

Tatsächlich begegnet das Splitting, das progressionsbedingt die Steuerlast für Ehepaare mindert, erheblichen Bedenken. Es stammt aus einer Zeit, in der sich die Ehe noch zur Familie zu erweitern pflegte, so daß die Steu-ererleichterung für Mann und Frau in aller Regel auch Kindern zugute kam. Mit eben dieser Begründung hatte das Bundesverfassungsgericht dem Ehegattensplitting vor langer Zeit sogar Verfassungsrang verliehen. Doch damit ist es längst vorbei, denn eine große und ständig wachsende Zahl von Ehen bleibt kinderlos. Die Zeit ist weitergegangen, aber die Politik ist nicht nachgekommen.

Der Steuervorteil fällt nun immer öfter Paaren zu, für die er nicht gedacht war. Um diesen Mißstand abzuschaffen, wäre das Ehegatten- durch ein gewogenes Familiensplitting zu ersetzen, durch ein Verfahren also, das nicht nur zwei, sondern die Gesamtzahl der zu versorgenden Personen bei der Festsetzung der Steuerlast berücksichtigt. Das wäre konsequent, würde jedoch Besitzstände antasten, und weil der Besitzstand das letzte Heiligtum der Deutschen ist, scheidet diese Lösung aus.

Das Ergebnis ist der wohl dokumentierte Fall der Rosa Rees, einer Frau, die zahlreiche Kinder in die Welt gesetzt und offenbar auch gut erzogen hatte, denn Monat für Monat hatten sie knapp 9.000 Mark an die staatlich betriebene Zwangsversicherung abzuführen. Von dieser stolzen Summe bekam die Urheberin des Reichtums, die Mutter selbst, aber nur eine kümmerliche Rente von gerade einmal 346 Mark im Monat ab. Der Rest ging an die große Zahl der cleveren Egoisten, die den Witz der intergenerativen Transferausbeutung begriffen und auf Kinder verzichtet hatten. Norbert Blüm, damals Sozialminister, nannte das sozial gerecht, seine Nachfolger behaupten das bis heute.

Daß ein Staat, der von immer weniger Kindern verlangt, immer mehr Alte auskömmlich zu versorgen, nicht überlebensfähig ist, liegt auf der Hand. Wolfgang Zeidler, einer der letzten hohen Richter mit Phantasie und Weitblick, sah das deutsche Rentenversicherungssystem denn auch mit geradezu versicherungsmathematischer Prognosegenauigkeit auf seinen Bankrott zulaufen. Der auch wohl längst schon eingetreten wäre, wenn der morsche Kahn nicht immer wieder mit irgendwelchen Notmaßnahmen über Wasser gehalten worden wäre.

Auf Dauer reicht das aber nicht. Die Zukunft des deutschen, umlagefinanzierten Versicherungssystems hängt an der Zahl und an der Leistungsfähigkeit der Kinder. Deswegen wären Kinder nicht nur bei der Steuerlast, sondern auch bei den Zwangsabgaben zu berücksichtigen, die der sozial genannten Versicherungsindustrie zufließen. Diese Abgaben sind längst zu einer zweiten Steuer geworden, abschreckend wie die erste. Hier Abhilfe zu schaffen, würde Geld kosten – Geld, das der Finanzminister, wie er behauptet, nicht hat. Deswegen beteiligt er sich mit 10 Milliarden Euro am Aufbau einer Chip-Fabrik in Magdeburg. Chips sind ihm wichtiger als Kinder, und nicht nur ihm.

Die Rechtsfähigkeit des Menschen, heißt es im Bürgerlichen Gesetzbuch, beginnt mit der Vollendung der Geburt. Von wegen! Das Neugeborene kann zwar erben, muß aber noch jahrelang warten, bis ihm das vornehmste von allen bürgerlichen Rechten, das Wahlrecht zuteil wird. Diesen Mangel bekommt es spüren. Die Brutalität, mit der Kinder und junge Leute während der Corona-Jahre ein- oder ausgesperrt worden sind, hat das noch einmal bis zum Überdruß bewiesen. Wenn es im Bundestag, selten genug, um Kinder, Familie und Gedöns geht, dürfen Schwule und Lesben, Bi-, Trans- und Queer-Sexuelle ihre Ansprüche vortragen und auf Gleichstellung pochen; Kinder dürfen das nicht. Sie können ihre Rechte nicht selbst vertreten, schon gar nicht das erste und wichtigste von allen, das Recht auf Vater und Mutter.

Unter dem Geschmetter von Gleichheitsparolen ist der besondere Schutz, den das Grundgesetz der Ehe und der Familie zugesagt hatte, auf alle möglichen Beziehungen, Verhältnisse und Partnerschaften ausgeweitet, in Wahrheit also ausgedünnt, verwässert und entwertet worden. Wer darin einen Fortschritt sehen will, sollte jedenfalls einräumen, daß es ein Fortschritt zu Lasten der schwächsten Glieder der Gesellschaft war, und das sind nun einmal die Kinder. Sie sind die mit Abstand größte Minderheit im Lande, haben aber keine Stimme und werden deshalb am gründlichsten diskriminiert. Der Beweis: die doppelte Kinderarmut, durch die sich Deutschland international hervortut, inzwischen sogar einen Spitzenplatz erobert hat, die Armut an Kindern und unter Kindern.

„Jedes Kind ist dem Staat gleich viel wert“, verkünden die Statthalter der Sozialbürokratie. Nicht jedes! Besonders wertvoll sind die Kinder, die auf der Schattenseite des Lebens gelandet sind, denn nur vor denen kann sich die Sozialmacht in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit entfalten. Die Planer, Helfer und Betreuer brauchen Arbeitsplätze, Not ist nötig! Daß sie mit ihren ewigen Ein- und Ausgriffen die Mißstände, die zu bekämpfen sie vorgeben, erst hervorbringen könnten, ist ein Verdacht, der diesen Leuten niemals kommt. Wie überall ist auch im Weltreich des Sozialen der kalkulierte Gedächtnisverlust Voraussetzung fürs politische Überleben.

Die idée fixe der Bundesfamilienministerin, die Kindergrundsicherung, wird daran nicht viel ändern. Sie lebt vom Mißtrauen gegen die Eltern und, umgekehrt, vom Glauben an die Leistungsfähigkeit der deutschen Sozialindustrie. Eltern gelten als Risikofaktoren, als Laien und Dilettanten, die zur Erziehung ihrer Kinder allenfalls unter Vorbehalt taugen. Kein Pädagoge, kein Berufsbetreuer, kein Erziehungsberater würde heute noch unterschreiben, was für Fontane selbstverständlich war: daß der Mensch vieles, „ja das Beste nur aus der Hand der Eltern empfangen kann. Wie die Eltern sind, wie sie durch ihr bloßes Dasein auf uns wirken – das entscheidet“.

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht, so steht es im Grundgesetz. Daß Eltern unersetzlich sind, hat man den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nicht erst erklären müssen, das verstand sich von selbst, war Naturrecht und als solches unantastbar. Unter der Herrschaft von kinderlosen Kanzlern und Kanzler*innen ist das inzwischen anders geworden. Sie haben die Verfassung nicht gebrochen, nur anders interpretiert: ohne ein Wort zu verändern, wurde ihr Sinn verschoben. Natürliche Rechte gibt es jetzt nicht mehr, soll es zumindest nicht mehr geben. Wo sie sich zeigt, muß die Natur verändert, umgebaut, in Wert gesetzt werden, sei es durch Windräder im Gebirge, LNG-Terminals auf Rügen, Dragqueens im Unterricht oder Pubertätsblocker auf Rezept. Denn die Natur ist schlecht, sie hat so vieles falsch gemacht, daß die Grünen von morgens bis abends damit beschäftigt sind, es wiedergutzumachen.

Ihr erster Zugriff gilt dem Menschen. Er ist zurückgeblieben, unmodern. Um ihn auf die Höhe der Zeit zu bringen, muß er verbessert, von den Fesseln seiner biologischen Herkunft befreit werden. Lisa Paus meint es wahrscheinlich ernst, wenn sie versichert, lieber einem Gesellschafts- als einem Familienministerium vorstehen zu wollen. Die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft, ehrwürdigste aller Vorkehrungen zur Verteidigung der Freiheit gegen den Übermut der Regierung, soll endlich fallen. Der Staat dringt immer weiter vor, bis in die letzten Winkel der Gesellschaft. Er will die Menschen abhängig machen, denn abhängige lassen sich leichter regieren als selbstbewußte Bürger.

Das ist der Fortschritt, von dem uns die Regierung immer mehr verspricht. Wohin er führen kann, am Ende wohl auch führen wird, läßt sich in Berlin, in Castrop-Rauxel oder in Offenbach besichtigen; dort ist der Bürgerkrieg schon angekommen. Die importierten Kinder haben ihre Herkunft nicht vergessen, sie folgen ihren eigenen Gesetzen und praktizieren ihre eigene Kultur. Jetzt proben sie den Aufstand, und man muß blind, fromm oder beides sein, um zu glauben, daß dem mit Solidaritätsappellen beizukommen wäre. Jung sorgt für Alt, auf diese Formel hatte Norbert Blüm, der kleine Mann der großen Worte, das Solidaritätsgebot verkürzt. Das war natürlich nur die eine Hälfte, die zweite lautet: . . . solange Alt für Jung gesorgt hat. An diese zweite Hälfte werden wir zur Zeit erinnert.

Auf ewig läßt sich die Natur nicht prellen. Um sie zu überlisten, muß man lügen, und Lügen haben kurze Beine, auch wenn sie von Ministern in die Welt gesetzt werden. Die Jüngeren werden nicht einsehen, warum sie für die Renten- und Pensionsansprüche von Leuten aufkommen sollen, mit denen sie nicht mehr verbindet als eine Versicherungsnummer. Sie wollen keine Sklaven sein, auch nicht in einem hochmodernen Sklavenstaat. Wenn sich die Alten auf ihre üppigen Versorgungsansprüche berufen, müssen sie mit der Frage rechnen: Was habt ihr denn für uns getan? Und wenn ihnen dann nicht mehr einfällt als eine Kontonummer, haben sie schlechte Karten. Wer das für unsolidarisch hält, sei daran erinnert, daß die Solidarität zwei Seiten hat. Und daß sich auf die eine nur berufen kann, wer die andere nicht verletzt hat.



Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Chefkorrespondent der Welt. Adam beteiligte sich 2013 an der Gründung der Alternative für Deutschland (AfD) und war bis 2015 einer ihrer Bundessprecher.