© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/23 / 21. Juli 2023

Wie wollen wir künftig leben?
Urbane Utopien und Dystopien: Die Städte von morgen setzen auf ökologische und technologische Konzepte
Thomas Schäfer

Der Prozeß der Urbanisierung schreitet unaufhaltsam voran: Im Jahre 2008 lebten weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Für 2030 rechnet der United Nations Population Fund mit fünf Milliarden Stadtbewohnern – bei einer geschätzten Erdbevölkerung von 8,5 Milliarden. Dabei liegen die Wachstumsraten in Afrika und Asien derzeit am höchsten. Beispielsweise entsteht nun entlang der westafrikanischen Küste eine neue multinationale Megalopolis. Das resultiert aus dem sukzessiven Zusammenwachsen von Lagos in Nigeria, Abidjan an der Elfenbeinküste, Accra in Ghana, Lomé in Togo und Cotonou in Benin.

Dieses riesige urbane Konglomerat auf dem Schwarzen Kontinent, welches sich am Ende über eintausend Kilometer erstrecken könnte, soll mittelfristig bis zu 500 Millionen Einwohner beherbergen. Angesichts all dessen ist die Frage, wie die Stadt der Zukunft aussehen könnte beziehungsweise müßte, akuter denn je. Bei der Beantwortung zeichnen sich derzeit zwei gegensätzliche Haupttrends ab: Einerseits wird prophezeit, daß die Städter nachgerade paradiesischen Zuständen entgegengingen, wenn ihre Lebensräume nur „smart“, „inklusiv“ und „ökologisch“ genug gestaltet seien. Andererseits gibt es aber auch zunehmend Stimmen, welche vor dystopischen Entwicklungen warnen.

Auf jeden Fall existieren bereits einzelne markante Gebäude, die wie eine Verheißung vom utopisch schönen Stadtleben von morgen wirken. Dazu zählen beispielsweise das Treehotel im schwedischen Harads oder das Haus der ungarischen Musik im Budapester Stadtpark. Ebenso zukunftsweisend-faszinierend präsentieren sich auch etliche Unterwasserresorts wie das Atlantis Sanya auf der chinesischen Insel Hainan oder das Restaurant Under an der norwegischen Küste bei Lindesnes.

Gleichermaßen attraktive Ausblicke auf die urbane Zukunft bieten des weiteren einige bislang noch nicht realisierte futuristische Städte von der Smart Forest City in Mexiko über das Chengdu Sky Valley in China bis hin zum Oceanix Busan in Südkorea. Im letzteren Fall soll eine Stadt auf dem Meer heranwachsen, deren schwimmender Untergrund aus Biorock besteht – dieses Material ist in der Lage, sich selbst zu regenerieren.

Dabei kann der Grat zwischen zukunftsweisender Ästhetik und weiterhin erforderlicher Funktionalität extrem schmal sein und zu spektakulären Abstürzen führen, wie manche Architekten inzwischen leidvoll erfahren mußten. So fungierte die glatte, konkave Glasfassade des von Rafael Viñoly entworfenen innovativen Wolkenkratzers in der Londoner Fenchurch Street als riesiges Brennglas, welches die Auslagen der gegenüberliegenden Geschäfte in Brand setzte und parkende Autos beschädigte, bis ein nicht sonderlich attraktiver zusätzlicher Sonnenschutz dem ein Ende setzte.

Ebenfalls kein Glück hatte das Architekturbüro Edward Durell Stone & Associates. Dieses wollte das 346 Meter aufragende Aon Center in Chicago zum höchsten marmorverkleideten Gebäude der Welt machen. Allerdings erwies sich das angeblich umweltfreundliche Material als reichlich ungeeignet, weswegen es schließlich unter hohem Kostenaufwand durch eine weniger noble Alternative ersetzt werden mußte.

Doch das sind relativ geringe Übel im Vergleich zu der Pleite, die dem gigantomanischen Projekt The Line drohen könnte. Das sieht vor, eine 170 Kilometer lange sowie rund 180 Milliarden Euro teure „Bandstadt“ in der Wüste im Nordwesten Saudi-Arabiens zu errichten. Diese „Revolution des städtischen Lebens“ soll ihren neun Millionen Einwohnern ein bequemes Leben ohne Auto ermöglichen und zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien versorgt werden. Daher wird The Line auch lautstark als „Lösung für alle Lebens- und Umweltkrisen, mit denen die Städte unserer Welt konfrontiert sind“, angepriesen. Skeptiker meinen hingegen, daß das „ökologische Neo-Babylon“ keineswegs so klimaneutral daherkommen könne wie versprochen: So müßte immerhin eine Fläche von der Größe der Slowakei mit Solarmodulen bedeckt werden, um die Stromversorgung zu sichern, was unrealistisch sei. Zudem bleibe die Frage, wer sich überhaupt in The Line niederlassen wolle.

Auf jeden Fall ist geplant, die „Bandstadt“, an der auch etliche westliche Stararchitekten mitwirken, zum Musterbild einer Smart City der Zukunft zu machen. Dieser Begriff dient der Kennzeichnung von Städten, welche angeblich effizienter, fortschrittlicher, umweltfreundlicher und humaner sind als das, was man bisher kennt. Dabei spielen digitale Technologien eine tragende Rolle. Aber genau die sind ein zweischneidiges Schwert. Denn sie erlauben natürlich auch die flächendeckende Überwachung der Bewohner bis in den allerprivatesten Bereich hinein und bilden die Grundlage für Sozialkreditsysteme, bei denen Menschen je nach Wohlverhalten von der Obrigkeit belohnt oder bestraft werden.

Dazu kommt die schleichende Verdummung der urbanen Bevölkerung durch zu viele „technische Krücken“. Mit Blick hierauf schrieb der Informationsarchitekt Adam Greenfield in seiner bereits 2013 erschienenen Streitschrift „Against the Smart City“, die neuartigen Städte seien lediglich ein „Markt, auf dem Technologiekonzerne ihre Produkte und Dienste verkaufen können“. Noch deutlicher wurde die deutsche Datenschutzaktivistin Rena Tangens während der Verleihung des Big Brother Award 2018: „Eine ‘Smart City’ ist die perfekte Verbindung des totalitären Überwachungsstaates aus George Orwells ‘1984’ mit den normierten, nur scheinbar freien Konsumenten in Aldous Huxleys ‘Schöne neue Welt’“. 

Und das scheint auch keineswegs übertrieben, wie beispielsweise das Konzept der sogenannten 15-Minuten-Städte zeigt, welche eine spezielle Art von Smart City darstellen. Hier lautet die Grund-idee, daß jeder Stadtbewohner sämtliche Örtlichkeiten, die er zum Leben brauche, innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen könne, wodurch das eigene Kraftfahrzeug überflüssig werde. Das impliziert allerdings einen ameisenartig-eingeengten Lebensstil, der keine Ausnahmen vom ewigen Wechsel zwischen Arbeiten und Erholen auf engstem Raume zuläßt. Deshalb verwundert kaum, daß die von dem Kolumbianer Carlos Moreno ersonnenen 15-Minuten-Städte insbesondere in China populär sind. Aber auch in Paris, Portland, Barcelona, Melbourne, Mönchengladbach und Oxford laufen Bemühungen, die Vision von der Stadt mit den beschränkten Bewegungsmöglichkeiten alsbald zu verwirklichen. Am weitesten ist man dabei in Oxford. Die 150.000 Einwohner der Universitätsstadt nördlich von London sollen ab 2024 in sechs Quartieren leben, zwischen denen trennende „Filter“ installiert werden. Das sind Übergänge mit Nummernschild-Scannern, deren Passage per Kraftfahrzeug lediglich aufgrund einer Sondergenehmigung möglich ist. Die gibt es außer für Taxis, Busse und so weiter jedoch nur für maximal 100 Tage pro Jahr.

Noch dystopischer als das Vorhaben der Stadtväter von Oxford sind freilich Pläne für Smart Citys, in denen Technologiekonzerne „alternative Regierungsformen“ testen dürfen, sofern die künftigen Bewohner „bereit sind, einfach bei Null anzufangen“. Was wie ein düsteres Hollywood-Szenario klingt, könnte im US-Bundesstaat Nevada demnächst Realität werden: Voriges Jahr legte der damalige demokratische Gouverneur Stephen Sisolak den Entwurf eines Gesetzes vor, dessen Verabschiedung Unternehmen aus den Zukunftsbranchen Robotik, Biometrie, Künstliche Intelligenz, Erneuerbare Energien und Autonome Fortbewegung ermächtigen würde, innerhalb ihrer autonomen „Innovationszonen“ eigene Herrschaftsformen zu etablieren. 

Es ist also unübersehbar, daß die Kräfte, welche danach streben, Städte in rundumüberwachte Öko-Ghettos unter der Kontrolle eines polizeilich-industriellen Komplexes zu verwandeln, momentan in vielerlei Hinsicht auf dem Vormarsch sind. Daher kann die Devise nur lauten: Wehret den Anfängen – auch wenn diese vollmundig als Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität angepriesen werden, um möglichst viele Städter im unklaren über ihr künftiges Schicksal zu belassen, bis es zu spät zum Aufbegehren ist.