© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/23 / 30. Juni 2023

Der Kollaps des Systems Putin läßt auf sich warten
Rußland: Nach dem Kurz-Putsch hält Präsident Putin die Zügel noch straffer / Alexander Lukaschenko will mitreden
Felix Hagen

Es ist eine der verwirrendsten Episoden russischer Politik. Am vergangenen Freitag eskalierte der monatelange Machtkampf zwischen dem Chef der Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, und der russischen Militärführung. Wagner-Kämpfer marschierten von der Ukraine aus nach Rußland ein, rückten auf Moskau vor und nahmen innerhalb weniger Stunden die Städte Rostow und Woronesch ein. Die verhältnismäßig kleine, aber schlagkräftige Truppe aus erfahrenen Kämpfern, von russischen Medien „Wagnerianer“ genannt, schoß auf ihrem Vormarsch mehrere Flugzeuge und Helikopter ab. 

Der schwerfällige russische Militärapparat wirkte völlig überfordert, in den sozialen Medien kursierten Bilder durchbrochener Sperren und ausgehobener Stellungen rund um Moskau. Doch plötzlich, am darauffolgenden Samstag, endete der Spuk so schnell wie er gekommen war. Söldnerführer Prigoschin verkündete, er habe seinen Vormarsch abgebrochen, um „Blutvergießen zu vermeiden“. Etwas weniger als 200 Kilometer vor Moskau kehrten die Wagnerianer einfach um und zogen sich in ihre Feldlager zurück. Seitdem rätseln Rußlands Verbündete und Gegner gleichermaßen darüber, was Prigoschin genau zum Abbruch seiner Revolte bewogen hatte. 

Die Faktenlage ist dünn, eine zentrale Rolle spielt aber offenbar Weißrußland. Angeblich sei der brüchige Frieden zwischen der Zentralregierung und der Söldnertruppe durch die Vermittlung des weißrussischen Staatschefs Alexander Lukaschenko zustande gekommen. Die Nachrichtenagentur Belta des Landes spricht von „Gesprächen“, die Lukaschenko mit Prigoschin geführt habe. Darin seien beide übereingekommen, daß „ein Blutbad auf russischem Territorium unzulässig“ sei, stattdessen habe es „umfangreiche Sicherheitsgarantien“ für die Wagnerianer gegeben. Diese Sicherheitsgarantien scheinen vorrangiges Kriegsziel der Söldner gewesen zu sein, denn im Vorfeld der Rebellion kam es immer wieder zu heftigen verbalen Angriffen von Prigoschin auf die russische Militärführung. Angeblich, so Prigoschin, habe die russische Führung sogar eines der Lager der Söldnertruppe mit Artillerie angegriffen. Den Beweis für einen solchen Angriff blieb der stets robust auftretende Wagnerboß bis zuletzt schuldig, auch das russische Verteidigungsministerium dementiert seit Freitag einen solchen Vorfall. 

Dennoch bezweifelt kaum jemand, daß das Verhältnis zwischen Prigoschin und Verteidigungsminister Sergej Schoigu irreparabel beschädigt ist. Bis zum Beginn der Rebellion am Freitag schien Prigoschin aber den offenen Bruch mit Staatschef Wladimir Putin vermeiden zu wollen. Ein offenbar zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. In einer Videobotschaft nach dem Beginn des Aufstands, bezeichnete Putin seinen alten Mitstreiter Prigoschin als „Verräter“ und machte ihn persönlich für die Eskalation der Lage verantwortlich. 

Weniger als drei Tage nach dem Ende der Rebellion scheint man in Rußland das Thema schnell beenden zu wollen. Die zuständige Staatsanwaltschaft kündigte an, die Verantwortlichen für die Krise nicht belangen zu wollen, das Verfahren sei „eingestellt worden“. Ein bemerkenswerter Vorgang in einem Land, in dem Meuterei und Landesverrat mit bis zu zwanzig Jahren Gefängnis bestraft werden. 

Russische Nationalgarde soll militärisch gestärkt werden 

Die von Lukaschenko angeblich vermittelten Sicherheitsgarantien scheinen zu halten. In einer Videobotschaft am vergangenen Montag versprach Putin den Wagnerianern drei Optionen, sie seien frei, „nach Hause zu ihren Familien zu gehen“, einen „Vertrag bei den regulären Streitkräften zu unterschreiben“ oder nach Weißrußland auszuwandern. Meldungen in weißrussischen Netzwerken zufolge haben sich viele Wagnerianer für letzteres entschieden. Mehrere „tausend Wagnerianer“ seien mit „Waffen und Ausrüstung nach Weißrußland eingereist“. Eine Entwicklung, die einigen westlichen Beobachtern Sorge bereitet. Eine „effektive Streitmacht in Weißrußland“ sei eine „erneute Bedrohung“, unkte der britische Ex-General Richard Dannatt. In der Tat errichtet die Regierung von Lukaschenko Anwohnern zufolge mehrere Militärlager für die Söldner, eines davon für 8.000 Kämpfer in Asipovichy, etwa 200 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. 

Welchen Zweck der Staatschef in Minsk mit den kampferprobten Wagnerianern verfolgt, bleibt bisher unklar. In offiziellen Stellungnahmen sprach Lukaschenko lediglich davon, den „Kollaps Rußlands vermeiden zu wollen“. Oppositionelle Quellen vermuten, daß ein Zusammenbruch der Regierung in Moskau auch das Ende der Lukaschenko Administration bedeuten würde. Bereits in der Vergangenheit brachte sich der weißrussische Machthaber immer wieder als Vermittler in auswärtigen Angelegenheiten ins Spiel, mußte jedoch zuletzt eine deutliche Beschränkung seines Spielraums durch Putin akzeptieren. Unklar ist auch, wie lange der Alarmzustand für die weißrussischen Streitkräfte noch andauern soll. Während der Wagner-Revolte hatte Lukaschenko die Sicherheitskräfte des Landes in Bereitschaft versetzt. Ob dieser Befehl mittlerweile wieder aufgehoben wurde, ist unklar. 

Welche Folgen der Blitzputsch für den inneren Aufbau der russischen Administration haben wird ist bisher noch nicht abzusehen. In einer Rede vor Armeeangehörigen am Dienstag kündigte Viktor Zolotov, der Befehlshaber der russischen Nationalgarde an, seine Einheiten würden künftig ebenfalls mit schweren Waffen ausgerüstet. Die 2016 aufgestellte Truppe war bisher zur Bekämpfung von lokalen Aufständen oder sogenannten „Farbenrevolutionen“ vorgesehen. In der Konfrontation mit Wagner erwies sich die Bewaffnung der Nationalgarde in den Augen vieler Beobachter als unzureichend. Zolotov erklärt den schnellen Vormarsch der Wagnerianer hingegen mit der Konzentration eigener Kräfte rund um Moskau, außerdem könne „nicht ausgeschlossen werden“, daß die Rebellion von Prigoschin vom Westen „beeinflußt“ worden sei. Westliche Geheimdienste hätten vorab von der Rebellion gewußt, so Zolotov. Eine Vermutung, die auch Putin in einer Videobotschaft am Montag verkündete.

Ebenfalls zurückhaltend äußert sich der Mann, der als einziger die Hintergründe der Rebellion aufklären könnte: Prigoschin selber. In einer Videobotschaft am Montag vormittag weist der Wagner-Führer die Gerüchte zurück, es sei ihm um einen Sturz der Regierung gegangen. Stattdessen habe man „eine Demonstration veranstalten“ wollen, gegen die Zwangsauflösung Wagners, die am 1. Juli hätte stattfinden sollen. Man habe „die eigene Ausrüstung direkt dem Oberkommando“ übergeben wollen und sei ohne Vorwarnung beschossen worden. Lukaschenko sei dann mit dem Vorschlag aufgetreten, die Angelegenheit „im Gerichtssaal“ zu klären. Diesem Vorschlag sei, „um Blutvergießen zu vermeiden“, Folge geleistet worden. Angaben von Lukaschenk zufolge sei Prigoschin dann am Dienstag nachmittag in Weißrußland eingetroffen.