© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/23 / 30. Juni 2023

„An sich glauben, niemals aufgeben“
Interview: Nicht nur unsere Nationalelf, der deutsche Fußball steckt in der Krise. Kein Wunder, kritisiert Weltmeister Thomas Berthold, der zweimal für Deutschland im WM-Finale stand. Kommerz, Politik und Modetrends haben unsere nationalen Tugenden und die Leidenschaft für den Fußball ersetzt
Moritz Schwarz

Herr Berthold, „Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Mann jagen 90 Minuten einem Ball nach – und am Ende gewinnen immer die Deutschen.“ 

Thomas Berthold: Sagte bekanntlich die englische Fußballegende Gary Lineker. 

Warum ist das heute nicht mehr so?

Berthold: Die Zeiten haben sich nun mal geändert. Das galt in den achtziger, vielleicht bis Anfang der neunziger Jahre, als Deutschland nacheinander zweimal Vize- und einmal Weltmeister wurde. 

Warum war das damals so?

Berthold: Weil wir damals noch Spielerpersönlichkeiten hatten.

„Spielerpersönlichkeiten“?

Berthold: Spieler, die an sich geglaubt haben. Die, egal in welcher Lage, nicht bereit waren, aufzugeben. Damals wollte niemand gern gegen uns spielen, weil alle wußten, die Deutschen hören nicht auf zu kämpfen – notfalls 120 Minuten lang! 

Wo ist das hin? 

Berthold: Tja, alle Fußballnationen durchleben Höhen und Tiefen. 

Sind die Spieler überbezahlt und „satt“, haben sie deshalb keinen „Hunger“ mehr nach dem Erfolg? 

Berthold: Das müßte sich dann doch ebenso bei den Nationen bemerkbar machen, die heute an der Spitze stehen. Denn deren Spieler verdienen ebenso gut – und trotzdem sind sie erfolgreich. 

Sie waren Teil dieser glorreichen Zeit, sind 1986 Vize- und 1990 Weltmeister geworden. Was haben wir verlernt, wie schmiedet man „Spielerpersönlichkeiten“?

Berthold: Das Problem beginnt schon damit, daß heute weniger Kinder kicken als damals.

Warum? 

Berthold: Weil es auf dem Sofa gemütlicher ist, als auch bei Regen zum Training zu gehen.

Stubenhocker gab es doch schon immer. 

Berthold: Stubenhocker meine ich nicht, sondern die, die etwas erleben wollen, dank Internet und Computer dafür aber nicht mehr aus dem Haus müssen. Uns dagegen blieb früher kaum etwas anderes übrig, als sich am Bolzplatz zu verabreden, mit vier Hemden die Tore zu markieren – und los gings! 

Daß deshalb so manches Talent gar nicht mehr zum Fußball, findet ist aber auch in anderen Ländern so. 

Berthold: Das stimmt, und das eigentliche Problem ist viel trauriger: Die ganze deutsche Fußballwelt ist nicht mehr in Ordnung. 

Inwiefern?

Berthold: Sie hat sich immer mehr vom Fußball wegentwickelt, stattdessen geht es heute vor allem um Geld und Politik. 

Geld kommt mit dem Erfolg – und für den braucht es doch guten Fußball. 

Berthold: Ja, nur kommt der nicht mehr aus Deutschland. In der Bundesliga stehen die Trainer enorm unter Druck, kurzfristig Erfolge zu produzieren, so daß sie gar nicht mehr die Zeit haben, Spieler aufzubauen. Stattdessen werden fertig geformte Spitzenleute und mittlerweile auch Nachwuchsspieler international zusammengekauft.

Also ähnlich wie wir auch sonst Probleme lösen wollen, Stichwort Demographie, Arbeitsmarkt, Sozialsysteme. 

Berthold: Der Fußball ist eben ein Spiegel der Gesellschaft. So traurig es ist, nur noch ein Erstligist, der SC Freiburg, macht sich die Mühe, eigene, deutsche Spieler zu entwickeln. Woher soll also der Spitzennachwuchs für unsere Elf kommen?

Was wäre die Lösung?

Berthold: Ginge es nach mir, müßte jeder Bundesligaverein den Anspruch haben, daß seine zweite Mannschaft mindestens in der dritten Liga spielt. Oder wir schaffen, wie in England oder Italien, eine eigene Liga für den Nachwuchs. Denn da die jungen englischen Nachwuchsspieler in Deutschland einen sehr guten Eindruck hinterlassen haben, scheint das Modell zu funktionieren. Es wird bei uns so viel in die Nachwuchsgewinnung investiert, um das Drumherum zu schaffen – aber das Entscheidende, das „Säen“ und „Gärtnern“, damit Talente heranwachsen und reifen, das fehlt.

Wie kommen wir dahin zurück? 

Berthold: Nicht ohne einen Mentalitätswechsel bei Verbänden und Vereinen, aber auch bei den Trainern. Die müßten nämlich bereit sein, sich wieder um die Jungen zu kümmern und nicht mehr nur ab und zu mal kurz bei diesen vorbeizuschauen – weil sie eigentlich nur nach schnellen Erfolgen schielen beziehungsweise den Erfolgsdruck auferlegt bekommen.

Und was meinten Sie eben mit „Politik“?

Berthold: Wohin es führt, wenn Verbände sich von der Politik instrumentalisieren lassen, haben wir doch in Katar erlebt, wo wir uns mit unserem Auftreten vor der Welt zum Gespött gemacht haben.   

Rudi Völler kritisierte danach, die dort aus Protest gegen die Fifa gezeigte „Mund zu“-Geste habe die Spieler „abgelenkt“. Aber ist es wirklich plausibel, daß das das blamable WM-Abschneiden mit verursacht hat?

Berthold: Sie unterschätzen, daß es bei solchen Turnieren einhundert Prozent Konzentration auf das Spiel braucht! Und die Debatte um diese Sache, die in der Mannschaft ja geführt wurde, hat ihren Erfolg auf jeden Fall torpediert. Was um so fataler ist, wenn es sowieso schon an Qualität mangelt.

Sie waren in Katar dabei.

Berthold: Aber natürlich nicht in der Kabine, so daß ich nur sagen kann, was in Doha kursierte. Demnach kam die Idee der „Mund zu“-Geste von der Agentur, die Leon Goretzka vertritt und löste eine Diskussion in der Mannschaft aus. Die Mehrheit war dagegen und wollte sich auf den Fußball konzentrieren. Doch die Sache wurde durchgedrückt. Allerdings geht es nicht nur um Katar, sondern darum, daß Politik und Sport grundsätzlich getrennt bleiben sollten. 

Das galt lange sogar als eine Lehre aus der Erfahrung des Nationalsozialismus. 

Berthold: Eben, und Aufgabe der Verbände ist es, zu ermöglichen, daß Sport ausgeübt werden kann, die Nachwuchsgewinnung klappt und wir international konkurrenzfähig sind. Wenn man sich aber etwa den DFB ansieht, dann scheint er sich diesbezüglich vollkommen vergaloppiert zu haben. Und ich frage mich, wie kann es sein, daß jemand wie Bernd Neuendorf, ehemaliger Staatssekretär in NRW, SPD-Mitglied, in das Amt des Präsidenten kommt? Da muß man doch nur eins und eins zusammenzählen.  

Der Frust der Fans über die Politisierung wächst. 

Berthold: Natürlich, weil sie spüren, daß sich durch den Kurs der Verbände der Sport von ihnen entfernt. Und wie reagiert der DFB? Statt ihn zu korrigieren, führte er einen Marketing-Unsinn wie „Die Mannschaft“ ein

Offenbar sollte das der Nationalelf eine Art persönlichen Namen geben. Ist das nicht sympathisch?

Berthold: Nein, im Gegenteil. Und zwar weil es unauthentisch ist und so das Problem, das es kaschieren soll, nämlich die Entfremdung von den Menschen, nur noch vergrößert. 

Warum steuern die Verbände, speziell der DFB diesen Kurs? 

Berthold: Die Nationalmannschaft ist die „Cash cow“ des DFB, und durch den aufgeblasenen Spielkalender der Uefa und Fifa finden zu viele Spiele statt. Es werden scheinheilige Debatten geführt, die Zahl der Länderspiele zu reduzieren, tatsächlich aber rückt das in immer weitere Ferne. Doch die Spieler brauchen längere Pausen – so kann es nicht weitergehen! Kommerzialisierung, Politisierung und Abschottung sind Dinge, vor denen die Verbände den Sport eigentlich schützen sollten – stattdessen aber betreiben sie vielfach das genaue Gegenteil.

Immer wieder wird auch kritisiert, daß es zumindest Teilen unserer Mannschaft an nationaler Identität fehle – Stichwort Fotos mit „meinem Präsidenten“ Erdoğan oder Koranverse rezitieren, statt das Deutschlandlied zu singen. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob das für die Leistung im Spiel wirklich relevant ist?  

Berthold: Auf jeden Fall. Wobei ich das Problem nicht nur bei einzelnen sehe. Wenn ich mich etwa daran erinnere, mit welcher Inbrunst die Argentinier im WM-Endspiel 2022 ihre Hymne gesungen haben, während bei uns ... ich weiß gar nicht mehr, ob da überhaupt jemand mitgesungen hat ... Auch hier gilt aber: Der Fußball ist ein Spiegel der Gesellschaft. Und können Sie dort noch Nationalstolz erkennen? Im Gegenteil, es wird doch geradezu versucht, unsere Identität als Deutsche abzuschaffen. Jedenfalls, wäre ich Bundestrainer, würde ich jedem klarmachen: „Wenn du den Adler auf der Brust trägst, dann wird gesungen!“ Ganz egal, ob weiß oder schwarz, ob Christ oder Moslem. Denn wenn die Nationalmannschaft antritt, hat sie wie ein Mann für ihre Nation zu stehen – das muß der Geist sein. Der Versuch des DFB, stattdessen durch Marketing-Gags und politische Wichtigtuerei, wie „Vielfalt“ etc., eine Ersatzidentität der Nationalmannschaft zu schaffen, funktioniert nicht, weil das nur heiße Luft ist, ja, es schadet ihr. Die Überzeugung muß aus dem Herzen kommen – das erkennen die Fans sofort.

Außer von einer nationalen Identität sprechen Sie auch von einer deutschen „Spielidentität“. Was ist das?

Berthold: Als Spanien mit seinem Spiel der kurzen Pässe erfolgreich war, hieß es, das machen wir jetzt auch! Aber das war falsch. 

Warum?

Berthold: Eben weil jedes Land auch beim Fußball seine Identität hat – und es ging ja auch in die Hose. 

Seit dem Erfolg der Argentinier ist nun Individualismus der neueste Schrei: Dribbling, den Gegner austanzen, kühne Alleingänge wagen etc. – bloß nicht „starr“ strategisch spielen.

Berthold: Das ist nur die nächste Mode. Aber es geht auch gar nicht um ein festes Schema, sondern darum, die spezifische Spielidentität einer Mannschaft zu finden. 

Was soll die bei uns Deutschen sein, „Rumpelfußball“?

Berthold: Das Rumpelfußball-Gerede war schon immer Unsinn – damit wird man auch nicht Weltmeister. Nein, der Weg zum Erfolg ist, eine Mannschaft zu formen, ihre Potentiale zu erkennen und richtig auszuspielen. 

Das heißt im Klartext?

Berthold: Nicht blindlings alles auszuprobieren, was gar nicht zu den Spielern paßt – wie es die Nationalmannschaft derzeit tut. 

Sie meinen, Strategie und Taktik von den Spielern her zu entwickeln, statt sie ihnen überzustülpen. 

Berthold: Richtig, doch dafür hat der Trainer erst mal eine Mannschaft zu schaffen, damit nicht nur elf einzelne Spieler auf dem Feld stehen. Dazu muß er aus einigen von ihnen eine „Achse“ bilden, an der sich die übrigen gruppieren. Als nächstes legt er das Fundament für jeden Spielaufbau: eine funktionierende Verteidigung. Und darauf dann kann das Spiel entwickelt werden – das sich an den Fähigkeiten der Spieler ausrichtet und diese optimal zur Geltung bringt. Dabei kann auch dieses oder jenes ausprobiert, der eine oder andere ausgetauscht und auch mal junge Spieler getestet werden. Ohne Achse und Fundament jedoch gerät jeder Spielaufbau ins Schwimmen. Und was macht der einzelne dann notgedrungen? Er schwimmt mit! Und so geht schließlich alles den Bach hinunter ... 

Experten haben zuletzt 19 verschiedene Abwehrformationen in 20 Länderspielen unserer Elf gezählt. Liegt es an Hansi Flick oder an den Spielern, daß offenbar nicht einmal diese Voraussetzung gelingt?

Berthold: Ganz ehrlich, mir ist das ein Rätsel. Schon in Katar konnte ich kein Spielsystem erkennen, stattdessen wurde planlos hin und her gelaufen. So entwickelte sich bei den Spielern matürlich kein Selbstvertrauen und ergo nie der Wille, sich freizukämpfen und ein Spiel noch zu „drehen“. Man würde meinen, spätestens mit der WM-Blamage wäre der Groschen gefallen. Stattdessen aber setzt Hansi Flick weiter aufs Testen und Versuchen, so daß vor lauter Ausprobieren immer noch zu keinem funktionierenden Spiel gefunden worden ist. Darüber wird mit dem wolkigen Versprechen hinwegzutrösten versucht, daß so irgendwann schon die Form gefunden werde, mit der es klappt. Ich glaube aber, daß auch die Mannschaft verstanden hat, daß das nur Sprüche sind.

Muß Flick also gehen?

Berthold: Die Wahrheit ist, daß es inzwischen auf dem Markt gar keine brauchbare Alternative mehr gibt. Zudem ist es bis zur Heim-EM 2024 nicht mehr weit. Das einzige, was nun wohl oder übel noch bleibt ist, daß Rudi Völler Hansi Flick klarmacht, daß es so nicht weitergeht und er sich festlegen muß! Und dann den Rest der Zeit so gut wie möglich zu nutzen, der Mannschaft ein Gerippe zu verschaffen. 






Thomas Berthold, der Fußballvizeweltmeister von 1986 und Weltmeister von 1990 spielte von 1985 bis 1994 in 62 Spielen, drei Weltmeisterschaften und einer Europameisterschaft für die deutsche Nationalmannschaft. Geboren 1964 in Hanau, begann er seine Bundesliga-Karriere 1982 bei Eintracht Frankfurt und kickte bis 2001 unter anderem für Bayern München, den AS Rom und den VfB Stuttgart, mit dem er 1997 den DFB-Pokal gewann.