© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/23 / 23. Juni 2023

Neue nukleare Dynamik
Südkorea und Japan: Angesichts wachsender Bedrohung vollziehen beide Staaten eine Kehrtwende in ihrer Militärdoktrin
Peter Seidel

Kurz vor seiner Reise in die Volksrepublik China bekräfigte US-Außenminister Antony J. Blinken gegenüber seinem koreanischen Amtskollegen Park Jin noch einmal die „eiserne Verpflichtung der Vereinigten Staaten zur Verteidigung“ der Republik Korea. Parallel dazu verurteilten Blinken, Park und Japans Außenminister Yoshimasa Hayashi die wiederholten Provokationen Nordkoreas durch die „anhaltenden rechtswidrigen Abschüsse ballistischer Raketen“ aufs schärfste. Das Bündnis zwischen den USA und Japan sei ein „Kraftmultiplikator für Sicherheit und Wohlstand“, lobte Blinken.

Zwei Wochen vorher hatte Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol erklärt, daß er angesichts der wachsenden militärischen Bedrohung durch Nordkorea das Bündnis mit den USA zu einem „nuklear basierten“ aufgewertet habe. Yoon bezog sich dabei auf seine Gespräche mit US-Präsident Joe Biden im April über die Bereitschaft Washingtons, Seoul im Falle eines möglichen Konflikts mit dem atomar bewaffneten Nordkorea mehr Einblick in seine Nuklearplanung zu geben.

Am 26. April hatten Biden und Yoon Suk-yeol die „Washington-Deklaration“ unterzeichnet. Darin verpflichteten sich beide Staaten zu einer vertieften kooperativen Entscheidungsfindung im Bereich der nuklearen Abschreckung, unter anderem durch einen verstärkten Dialog und Informationsaustausch über die zunehmenden nuklearen Bedrohungen für Südkorea und die Region. Die beiden kündigten die Einrichtung einer neuen Nuklearen Konsultationsgruppe an, die die erweiterte Abschreckung stärken, die nukleare und strategische Planung erörtern und die Bedrohung des Nichtverbreitungsregimes durch Nordkorea bewältigen soll.

Deutliche Mehrheit der Südkoreaner will Nuklearwaffen

„Nordkorea baut seine Nuklear- und Raketenfähigkeiten aus und hat den Einsatz von Atomwaffen gesetzlich festgelegt“, betonte dann auch Yoon in einer Rede anläßlich des südkoreanischen Gedenktages am 6. Juni. Das Bündnis zwischen Südkorea und den USA sei nun zu einem Bündnis auf nuklearer Basis geworden, so Yoon. Nordkorea habe in diesem Jahr seine größte ballistische Interkontinentalrakete abgefeuert und versucht, seinen ersten Spionagesatelliten zu starten, wobei die Rakete und die Nutzlast ins Meer gestürzt seien.

Die öffentliche Diskussion über eine eigene nukleare Teilhabe hat in den vergangenen zwei Jahren sowohl in Südkorea wie in Japan Fahrt aufgenommen. Und zumindest in Südkorea spricht sich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung für eigene Nuklearwaffen aus; in Japan wird darüber diskutiert. Nun sind Deklarationen, feierliche öffentliche Erklärungen also, das eine, real existierende Rüstungsprogramme das andere. Hier haben sowohl Südkorea als auch Japan bereits entscheidende Weichen gestellt und strategische Rüstungsprogramme auf den Weg gebracht. In Expertenkreisen macht seitdem das Wort vom „atomaren Dominoeffekt“ die Runde.

 So hat Südkorea erfolgreich U-Boot-gestützte ballistische Raketen (SLBM) entwickelt und dafür neue, größere strategische U-Boote in Dienst gestellt. U-Boote und Raketen dürften bald die operative Einsatzfähigkeit erreichen, Ziel sind 27 Boote mit jeweils bis zu zehn Raketen. Ein „Signal“ dafür, so das australische National Security College erst vor wenigen Tagen, daß Südkorea größere Unabhängigkeit von den USA und damit größere Sicherheit anstrebe, aber auch für seinen „größeren Appetit auf Nuklearwaffen“.

Solche U-Boote werden von den etablierten Atommächten seit langem bewußt als kaum verwundbare Zweitschlagwaffen genutzt. Und egal, ob die koreanischen Raketen konventionell oder nuklear bestückt werden: es gilt, daß etwa das kommunistische Nordkorea so nicht wissen kann, wie die Raketen ausgerüstet sind, da sie nuklearfähig sind. Eine solche Nuklearfähigkeit kann allerdings Zweideutigkeiten schaffen. Die Frage ist, wie sie einzuschätzen ist: Das Internationale Institut für Strategische Studien in London (IISS) befürchtet bei konventionellen Raketen eine geringere Krisenstabilität, andererseits könnten sie erhöhte Abschreckungsstabilität vor Eintritt einer Krise ermöglichen. Bisher jedenfalls hat noch keine einzige Nuklearmacht auf solche Raketen und Marschflugkörper verzichtet. Der Trend geht zu ihrem Ausbau. In jedem Fall ist Südkorea seit zwei Jahren das erste Land weltweit mit konventionellen SLBM, wie die Arms Control Association in Washington feststellte.

Im Zentrum des internationalen Interesses stand in den vergangenen Jahren nicht Südkorea, sondern das mit den Begrenzungen seiner pazifistischen Nachkriegsverfassung zunehmend unzufriedene Japan, eine Unzufriedenheit, die jedenfalls das IISS angesichts der strategischen Entwicklungen in China und Nordkorea nicht zuletzt auf die alte Frage nach der Glaubwürdigkeit der erweiterten US-Abschreckung zurückführte.

Bereits im März vergangenen Jahres hatte der Ex-Premier Shinzo Abe die japanische Diskussion über eine nukleare Teilhabe seines Landes befördert, und im Dezember legte der neue Premierminister Fumio Kishida Strategiepapiere für eine grundsätzlich erneuerte nationale Sicherheitsstrategie vor. Das Ziel: eine dramatische Transformation der überkommenen Nachkriegssicherheitspolitik. Wie im Falle Südkoreas soll damit eine größere Unabhängigkeit von der US-amerikanischen erweiterten Abschreckung erreicht werden, gerade angesichts neuer chinesischer und nordkoreanischer Fähigkeiten, das nordamerikanische Staatsgebiet direkt mit Atomraketen zu bedrohen. Allerdings ist in Japan das Meinungsbild nicht so eindeutig wie in Südkorea, auch aufgrund historischer Belastungen. Einen Monat zuvor hatten sich in einer Meinungsumfrage aber immerhin 68 Prozent für eine substantielle Stärkung des japanischen Verteidigungspotentials ausgesprochen.

Japan verabschiedet sich von der Yoshida-Doktrin

Entsprechend hatte das japanische Parlament vergangene Woche nach Angaben der Kyodo News ein Gesetz zur Schaffung eines Fonds verabschiedet, der einen Teil der beträchtlichen Erhöhung der Verteidigungsausgaben zum Schutz des Landes vor Sicherheitsbedrohungen durch seine Nachbarn abdecken soll. Das Gesetz sei ein „wesentlicher Bestandteil des Plans von Premierminister Fumio Kishida, bis zum Jahr 2027 insgesamt 43 Billionen Yen (305 Milliarden Dollar) für die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit“ auszugeben.

Parallel dazu präsentierte die Regierung Kishida vorige Woche einen Weltraumsicherheitsentwurf, der darauf abzielt, den Weltraum besser für Verteidigungszwecke zu nutzen. Nach Angaben des EAF-Redaktionsgremiums an der Crawford School of Public Policy, College of Asia and the Pacific baut dieser auf den drei neuen Sicherheitsdokumenten auf, die die Regierung von Kishida im Dezember 2022 veröffentlicht hatte und in denen sie sich dazu verpflichtet habe, die Verteidigungsausgaben bis 2027 auf zwei Prozent des BIP zu verdoppeln und in Tomahawk-Raketen zu investieren, um Fähigkeiten zur Raketenabwehr zu entwickeln.

Das Ende der traditionellen Yoshida-Doktrin? Sie sei nicht mehr mit Japans neuer großer Strategie zu vereinbaren, erklärt Yusuke Ishihara, Senior Fellow am Nationalen Institut für Verteidigungsstudien in Tokio. Die Doktrin sah vor, daß Japan zwei Prinzipien fortführt. Erstens die Beibehaltung einer US-Militärpräsenz zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit Japans. Zweitens: Verzicht auf eine ressourcenintensive militärische Aufrüstung. Zur Umsetzung erlegte sich Japan eine Reihe politischer Selbstbeschränkungen auf, wie die Obergrenze für den Verteidigungshaushalt von einem Prozent des BIP und den Verzicht auf die Anschaffung von Langstreckenraketen und Atomwaffen.