© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/23 / 09. Juni 2023

Verhärtete Fronten
Kosovo: Die Serben im Norden des Landes suchen die Konfrontation mit überforderten KFOR-Truppen
Marc Zoellner

Für fünfhundert türkische Soldaten begann vergangenen Sonntag ein Flug ins Ungewisse: Ein komplettes Bataillon an Kommandosoldaten in das Kosovo zu verlegen, hatte das türkische Verteidigungsministerium noch am Tag zuvor der Nato rasch zugesichert, um deren KFOR-Einheiten im serbisch geprägten Norden des Landes gegen die anhaltenden Unruhen zu unterstützen. Zwar hält die KFOR im Kosovo bereits rund 3.800 Soldaten stationiert, darunter gut zehn Prozent türkischer Herkunft. Doch seit den schweren Ausschreitungen in der kleinen Gemeindestadt Zvečan, bei welchen vergangene Woche Montag elf italienische und 19 ungarische Soldaten verletzt wurden, sah sich die KFOR-Führung zunehmend zwischen serbischen und albanischen Nationalisten in Bedrängnis, ihre Anwesenheit um insgesamt 700 zusätzliche Soldaten aufzustocken. Daß Ankara bereitwillig das Gros der benötigten Verstärkung stellt, ist derweil kein Zufall.

Spannungen zwischen 

Rußland und der Türkei

Nach der Loslösung der ehemals serbischen Provinz vom Mutterland am 17. Februar 2008 hatte die Türkei das Kosovo als einer der ersten Staaten überhaupt schon wenige Stunden später anerkannt. Spätestens seit Mai vergangenen Jahres wirbt die türkische Regierung energisch um eine Aufnahme des umstrittenen Staats, welcher derzeit von lediglich 101 UN-Mitgliedsstaaten als souverän anerkannt wird, in das Nato-Bündnis. Die Intention hinter diesem Werben ist offensichtlich: Im Kosovo sieht Ankara einen engen muslimisch dominierten Verbündeten auf europäischem Boden. „So wie wir es im Fall der Anerkennung getan haben, werden wir es auch im Prozeß der Nato-Mitgliedschaft des Kosovo tun“, erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan damals nach einem Treffen mit seiner kosovarischen Amtskollegin Vjosa Osmani. „Wir brauchen niemandes Erlaubnis, um den Nato-Mitgliedschaftsprozeß zu unterstützen.“

Ganz bewußt inszeniert sich die Türkei dabei als Gegenpol nicht nur zu Serbien, welches die Abspaltung seiner ehemaligen Provinz nie anerkkannt hat, sondern auch zur Russischen Föderation, eines historisch engen Verbündeten des Balkanstaats. „Kosovo erlangte seine Unabhängigkeit durch eine einseitige und rechtswidrige Unabhängigkeitserklärung“, verdeutlichte Rußlands Außenminister Sergei Lawrow vergangenen Freitag erneut den Standpunkt des Kreml zur Kosovofrage. „Der Westen sagte damals, es handle sich dabei um das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es fand dort kein Referendum statt.“ Die Mobilisierung serbischer Streitkräfte an der Grenze zum Kosovo von Ende Mai sähe Rußland als souveräne Reaktion auf die Unruhen, so Lawrow.

Daß es überhaupt zu Gewaltausbrüchen im kosovarischen Grenzgebiet zu Serbien kam, hatte dabei nicht nur die heillos überforderten KFOR-Truppen, sondern auch die westliche Staatengemeinschaft überrascht: Immerhin hatten sich nur gut zwei Monate zuvor am 18. März auf Druck der Europäischen Union der kosovarische Premierminister Albin Kurti und der serbische Präsident Aleksandar Vučić nach einem zwölfstündigen Verhandlungsmarathon auf einen Vorgehensplan zur Normalisierung ihrer Beziehungen geeinigt. „Das ist eine faktische Anerkennung zwischen dem Kosovo und Serbien“, lobte Kurti das Verhandlungsergebnis gar im Anschluß. Doch auf dem Gipfeltreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPC) im moldawischen Bulboaca wollten sich Vučić und Amtskollegin Osmani nicht mal mehr in die Augen schauen. Erneut brauchte es den Druck der EU, diesmal auf den kosovarischen Partner, eine Verhandlungsbasis bereitzustellen und Neuwahlen in den Grenzgebieten zuzulassen. Die kosovarische Präsidentin, die vorab noch undiplomatisch erklärte, Serbiens Staatsoberhaupt würde nur „jammern und sich beschweren und nie die Wahrheit sagen“, knickte ein und erklärte sich zu Neuwahlen unter der Bedingung bereit, daß zwanzig Prozent der betroffenen Bürger diese Neuwahlen auch verlangten, so wie es die kosovarische Verfassung auch vorsehe.

Fraglich ist, ob es soweit überhaupt kommen wird: Denn bereits zur letzten Wahl am 23. April in den vier mehrheitlich serbisch bewohnten Gebieten des nördlichen Kosovo hatten die serbischen Parteien einen Urnengang boykottiert, um ihrem Ziel einer Wiederangliederung an den serbischen Staat Nachdruck zu verleihen. Von über 40.000 wahlberechtigten Serben hatten nur 13 ihre Stimme abgegeben. Hingegen fast alle der 1.600 wahlberechtigten Albaner. Trotz einer Wahlquote von nur 3,5 Prozent erkannte die kosovarische Regierung das Wahlergebnis an und ließ entlang serbischer Protestler die gewählten albanischen Bürgermeister unter dem Schutz von Polizei und bewaffneter KFOR-Soldaten in die Rathäuser eintreten. Bei den anschließenden Protesten wurden neben 30 KFOR-Angehörigen auch 60 Kosovo-Serben verletzt. Als Reaktion verlegte Serbien einen Teil seiner Truppen an die Grenze zum Kosovo. „Die Nato wird wachsam bleiben“, erklärte Jens Stoltenberg, Generalsekretär der Nato, unter derem Kommando die KFOR im Kosovo agiert, mit Blink auf die von der Türkei versprochenen Unterstützungstruppen. „Wir werden dort sein, um ein sicheres Umfeld zu gewährleisten und auch um die Spannungen zu beruhigen und abzubauen.“