© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/23 / 09. Juni 2023

„Selbstgespräch statt Debatte“
Interview: 2020 taten sich Schüler zusammen, ARD und ZDF auf die Finger zu schauen. Inzwischen dokumentiert ihr „ÖRR-Blog“ präzise wie niemand sonst Fehler und Manipulationen der Öffentlich-Rechtlichen. Ein Gespräch mit Gründer Jonas Müller
Moritz Schwarz

Ach, Herr Müller ... früher, da hatten Journalisten noch Ideale ...

Jonas Müller: Das weiß ich nicht, seit ich aber genauer hinschaue, habe ich daran meine Zweifel.

Wann kam Ihnen denn der erste?

Müller: Schon als Schüler fiel mir auf, daß der öffentlich-rechtliche Rundfunk diese Tendenz hat, erziehen zu wollen. 

Sie sind 21. Wieso stört Sie das? 

Müller: Wieso nicht? 

Kennen Sie nicht die Steigerung von „alt“? 

Müller: Da bin ich gespannt. 

Alt, älter, ARD.

Müller: Sie meinen, junge Leute gucken kein öffentlich-rechtliches Fernsehen?

Das Durchschnittsalter der ÖRR-Zuschauer lag 2020 bei 62 Jahren, ein Drittel über dem der Bevölkerung.

Müller: Es geht doch nicht nur ums klassische Fernsehen. Junge Leute erreicht der ÖRR über die sozialen Medien – Ihnen scheint gar nicht bewußt zu sein, wie unfaßbar präsent er dort inzwischen ist!

Äh ... 

Müller: Die Steigerung von „jung“ scheint JUNGE FREIHEIT jedenfalls nicht zu sein. 

Definieren Sie „unfaßbar präsent“.

Müller: Neben den 20 Fernsehprogrammen und 69 Radiosendern betrieben die Öffentlich-Rechtlichen 2022 über 750 Konten und Kanäle in sozialen Medien – die meisten davon auf den dominanten Plattformen Instagram, Twitter, Youtube, Spotify oder Facebook. Inzwischen werden etwa 28 Prozent der ÖRR-Formate ausschließlich für soziale Netzwerke produziert. Dazu kommen zahlreiche weitere Kanäle und Konten, die von ÖRR-Mitarbeitern privat betrieben werden. Zum Beispiel erreicht Böhmermanns „ZDF Magazin Royal“ auf Twitter 825.000 Nutzer, er privat dagegen 2,7 Millionen – dreimal mehr als der Bundeskanzler. Der ÖRR ist in den sozialen Medien eine Macht, ein Ausmaß wie er erreicht kein privates Medium! 

Und der versuchen Sie nun am Zeug zu flicken?

Müller: Nein, wir dokumentieren auf unserem ÖRR-Blog schlicht, was wir für kritikwürdig oder zumindest bemerkenswert halten. 

Zum Beispiel?

Müller: Etwa daß tagesschau.de die Razzien gegen die „Letzte Generation“ im Interview von dem Protestforscher Saldivia Gonzatti bewerten läßt. 

Gonzatti ist immerhin Mitglied des renommierten Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung.

Müller: ... und der Grünen.

Oh. 

Müller: Eben, das verschweigt die Tagesschau. Dabei ist er nicht einmal nur passives Mitglied, sondern Rechnungsprüfer im Kreisverband Dortmund. 

Das schließt aber doch nicht aus, daß er sich als Sozialwissenschaftler zu den Razzien äußert. 

Müller: Natürlich nicht. Aber die Nutzer sollten über seine Parteilichkeit informiert sein, schließlich könnte sie sein Urteil beeinflussen.

Oder auch nicht. Wie bewertet er denn die Razzien? 

Müller: Als „überzogen“, damit werde „die gesamte Bewegung kriminalisiert“.    

Das ZDF wurde 1963 gegründet, um eine etwaige politische Einseitigkeit der ARD auszugleichen – was also sagt heute.de zu den Razzien?

Müller: Dort hat man sich den „Radikalisierungs-Forscher“ Matthias Quent ausgesucht, der sie im Interview allerdings ebenfalls kritisiert.  

Sie meinen den Matthias Quent, der mit der Amadeu-Antonio-Stiftung verbandelt ist?

Müller: Darüber steht bei heute.de nichts. Anderes Beispiel: Einen Tag später berichtete tagesschau.de über die Reaktionen auf die Entlassung der Dozentin Bahar Aslan, die von „braunem Dreck“ in der Polizei getwittert hatte, durch der Polizeihochschule NRW. Was die innenpolitische Sprecherin der Landesgrünen, Julia Höller, scharf kritisiert hat.

Und? Es wird über Frau Höller doch klar und deutlich gesagt, daß sie eine Grüne ist. 

Müller: Aber nicht über Frau Aslan. 

Höller verteidigte also eine Parteifreundin?

Müller: Ja, und die Frage ist, warum wird das von der Tagesschau für den Leser nicht transparent gemacht? Es gehört doch zum Gesamtbild dazu. 

Wie viele solcher Auffälligkeiten finden Sie pro Woche?

Müller: Pro Woche? Am Tag! In den 31 Tagen des vergangenen Montas haben wir 130 Tweets veröffentlicht. Wobei allerdings nicht alles, was wir twittern, unbedingt auf einen Mißstand hinweist. Manche Dinge finden wir einfach nur bemerkenswert.

Zum Beispiel?

Müller: Etwa daß die nun über ihre Entfernung klagende Frau Aslan 2020 selbst forderte, den ihr offenbar nicht genehmen Manuel Ostermann, Vizevorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, „aus dem Dienst zu entfernen“. 

Und welcher Art sind die „Mißstände“, die Sie aufgreifen?

Müller: Zunächst sind da mutmaßliche Flüchtigkeitsfehler. So bebilderte tagesschau.de jüngst einen Artikel über Trockenheit als Folge des Klimawandels mit dem Foto des ausgetrockneten Ellertshäuser Sees – der aber gar nicht vertrocknet, sondern wegen Bauarbeiten abgepumpt worden ist. Das ZDF dagegen behauptet am 11. Mai, die NS-Bücherverbrennung habe „heute vor 50 Jahren“ stattgefunden – also 1973. Schlimmer sind allerdings Fälle offensichtlicher Inkompetenz. Etwa behauptete eine ZDF-Doku neulich, Weizen werde von Bienen bestäubt – tatsächlich ist Weizen aber ein Selbstbestäuber. Kurz darauf rechnete es aus, daß ein Gastwirt beim Verkauf eines Flammkuchens zu zehn Euro, dessen Zutaten ihn zwei Euro kosten, 500 Prozent „Gewinn“ mache – ohne die Kosten für Löhne, Energie, Miete und Investitionen umzulegen! Und das auch noch ausgerechnet in seinem Wirtschaftsmagazin „Wiso“.  

Wie groß ist der Anteil an politischen Mißständen, die Sie thematisieren? 

Müller: Das haben wir nie erhoben, aber ich schätze mal unverbindlich ... nun, vielleicht um die siebzig Prozent. Beispiele habe ich schon eingangs genannt. Ein weiteres wäre, daß Tagesschau und NDR letzte Woche über feiernde Erdoğan-Anhänger in Hamburg berichteten, unter denen einige wie zu sehen den faschistischen Graue-Wölfe- und den Rabia-Gruß der Muslimbruderschaft zeigten. In dem Beitrag ist davon aber mit keinem Wort die Rede! Oder daß ARD und ZDF die linke Gewalttäterin Lina E. auch nach ihrer Verurteilung nur als „mutmaßliche“ Linksextremistin bezeichnen. Oder WDR-Mann Lorenz Beckhardt, der in einem Tagesthemen-Kommentar die Politik aufgefordert hat, Fleisch, Autofahren und Fliegen viel teurer zu machen – selbst aber, wie wir dokumentieren, immer wieder Bilder von dicken Fleischportionen postet, die er sich in schicken Hotels in fernen Ländern gönnt und der sich zu Hause, nach eigenen Angaben, ein „geräumiges Auto“ leistet.

Wie viele Mitarbeiter hat der ÖRR-Blog?

Müller: Wir sind um die fünf Personen, zwischen 20 und 25 Jahren, mehr will ich nicht sagen.

Warum die Geheimniskrämerei?

Müller: Nicht weil wir etwas zu verbergen haben, aber wie reagieren Arbeitgeber, wenn sie etwa mit kruden Anschuldigungen gegen Leute, die bei uns mitarbeiten, überflutet werden? Man muß sich ja nur den Fall Arne Schönbohm ansehen, der aufgrund von Vorwürfen Jan Böhmermanns in dessen Sendung seinen Job verloren hat, obwohl, wie sich herausgestellt hat, an diesen nichts dran ist. Und wenn nicht einmal ein Spitzenbeamter wie Schönbohm davor gefeit ist, was hätten dann wir zu erwarten?

Wieso gehen Sie dann an die Öffentlichkeit?

Müller: Einer muß ja nun mal für den Blog sprechen. Aber ich habe dafür auch bereits entsprechendes erlebt ... über das ich aber nicht reden will. 

Nachdem Sie Ihre Identität öffentlich gemacht haben, twitterte „Monitor“-Moderator Georg Restle süffisant: „Interessant: Der ‘Orga-Chef’ von ‘örrblog’, wo man sich regelmäßig beschwert, wenn kritisch über CDU/CSU berichtet wird, ist CSU-Politiker.“

Müller: Über Kritik an CDU/CSU per se haben wir uns noch nie beschwert. Im übrigen bin ich lediglich zweiter CSU-Vorsitzender in einer 2.000-Seelen-Gemeinde – was zudem mit dem Blog gar nichts zu tun hat.  

Das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ attestiert Ihnen zwar, „ziemlich erfolgreich“ zu sein, spricht allerdings ebenfalls von „der politischen Agenda“ eines „CSU-Lokalpolitikers“ und seinem „Kampagnenblog“.

Müller: Uns vorzuwerfen, eine Agenda zu haben – das habe ich bis heute nicht verstanden. Denn wie kann ein kritischer Blog keine Agenda haben? Genau dafür gründet man ihn doch. Allerdings ist das unsere und nicht meine oder gar eine CSU-Agenda. Überhaupt ist die Bezugnahme des RND auf meine CSU-Mitgliedschaft angesichts dessen, daß dessen größter Anteilseigner das Medienbeteiligungsunternehmen der SPD ist, nicht ohne unfreiwillige Komik. Im übrigen spielt bei unserer Agenda keinerlei Rolle, welche politische Partei betroffen ist. Und so haben wir selbstverständlich auch schon kritisiert, daß etwa in der BR-Talkshow „Jetzt red i“ ein CSU-Politiker nicht als solcher kenntlich gemacht wurde. Daß so etwas allerdings die Ausnahme ist, liegt nicht an uns, sondern daran, daß Politiker, die der ÖRR dem Zuschauer als normale Bürger unterjubeln will, vor allem solche der Grünen und der SPD sind. Wer aber je Fälle findet, in denen sich der ÖRR zum heimlichen Anwalt von Union, FDP oder AfD macht – bitte meldet sie uns, wir werden sie auf jeden Fall veröffentlichen! Und wer uns das nicht glaubt, der möge bitte Fälle nennen, in denen das bereits der Fall war und die wir „verschwiegen“ haben. Bisher ist uns noch kein solcher genannt worden!  

Wie steht es um die politische Haltung Ihrer Kollegen?

Müller: Die ist eher liberal-konservativ, steht aber, wie gesagt, nicht im Vordergrund. Und um Ihre wohl nächste Frage vorwegzunehmen: Nein, wir werden auch von niemandem bezahlt, haben mit dem ÖRR-Blog keinen Cent verdient, machen das nicht hauptberuflich, sondern ehrenamtlich – unter Opferung eines Großteils unserer Freizeit. Wobei wir zum Glück auch von einer großen Community unterstützt werden, die uns auf vieles hinweist. Und zu der übrigens auch Grüne und Linke gehören, die sich kritisch mit dem eigenen Lager auseinandersetzen.

Was steckt Ihrer Ansicht nach hinter dieser Masse an Tweets – für die es ja eigentlich, würde der ÖRR seinem Anspruch gerecht, gar keinen Anlaß geben dürfte? 

Müller: Es ist kaum zu leugnen, daß der ÖRR einen ziemlichen Linksdrall hat. Das zeigt sich an dem, was dort vorgestellt wird, aber auch wie es vorgestellt wird, wen man einlädt und welche Experten dort befragt werden. Bei denen sich auf unsere Recherchen hin nicht selten herausstellt, daß sie, wie bei den eingangs genannten Beispielen, im Grunde befangen sind. Dazu kommt, daß der ÖRR regelrechte Kampagnen betreibt, was daran zu merken ist, daß in zeitlicher Nähe verschiedene Redaktionen die gleichen Themen behandeln und zwar mehr oder weniger auf die gleiche Art. So wird er, obwohl zur Ausgewogenheit verpflichtet, zur Plattform für eine Agenda und manche Redaktionen mißbrauchen ihn skrupellos dazu, allein ihre Meinung zu verbreiten.

Themen aufzugreifen und Debatten abzubilden gehört aber doch zum Auftrag des ÖRR.   

Müller: Das stimmt. Was aber dafür meist fehlt, ist die andere Seite, denn „Debatten“ sind im ÖRR oft Selbstgespräche, in denen zwar verschiedene, aber gleichgesonnene Leute immer wieder die gleichen ein, zwei Meinungen präsentieren. Und kommt einmal eine echte Antithese zur Sprache, wird ihr meist abgesprochen, ein legitimer Debattenbeitrag zu sein und es wird als Mißstand dargestellt, daß andere Leute überhaupt so eine Meinung haben. Obendrein werden diese häufig gar nicht so präsentiert, wie sie gemeint sind, sondern nur das Verständnis, das die ÖRR-Journalisten davon haben. Wobei ihren Vertretern gerne auch noch Worte in den Mund gelegt werden, die sie nie gesagt haben. 

Dennoch tritt Ihr Blog nicht für eine Abschaffung des ÖRR ein. Warum nicht?

Müller: Zum einen gibt es noch eine Generation älterer Menschen, die sich mit Internet und Streaming-Diensten nicht auskennt und medial im ÖRR zu Hause ist. Mein persönlicher Vorschlag wäre daher ein Grundbeitrag von zum Beispiel drei Euro im Monat für ein Basisinformationsangebot, also alles, was sich heute bei der Tagesschau findet – aber politisch ausgewogen! Alles darüber hinaus wäre freiwillig und könnte in Paketen gebucht werden, also etwa Unterhaltung, Sport, Wissenschaft etc.  So daß, wer die Angebote nutzen möchte, nur für das bezahlt, was ihn auch wirklich interessiert. 

Und Sie glauben, damit wäre ein ÖRR zu finanzieren? 

Müller: Wenn er so gut ist, wie er behauptet, dürfte es kein Problem sein, genug Zuschauer zu finden. 

Sie haben Ihre vorletzte Antwort mit „zum einen“ begonnen – gibt es noch einen weiteren Grund?

Müller: Zum anderen ist der ÖRR an sich doch eigentlich eine gute Idee. Denn nur ein von allen finanziertes Medium kann ökonomisch unabhängig und politisch ausgewogen sein. Oft werden wir als eine Art Feind des ÖRR dargestellt – aber das Gegenteil ist wahr: Sein größter Feind sind die Journalisten, die ihn für ihre politische Agenda mißbrauchen und damit den Konsens zerstören, auf dem er aufgebaut ist. Sowie die Funktionäre, die aus ihm einen Selbstbedienungsladen gemacht haben. Wir dagegen fordern, ihn gründlich zu reformieren und ihn damit wieder zu dem zu machen, was er ursprünglich sein sollte.  






Jonas Müller, als Mitgründer und Sprecher des ÖRR-Blogs (Logo rechts) „macht das CSU-Mitglied Schlagzeilen“ (Augsburger Allgemeine). Geboren wurde der Student der Geisteswissenschaften 2002 im oberfränkischen Weilersbach bei Erlangen.