© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/23 / 19. Mai 2023

Der Flaneur
Erinnerung an die Ahnen
René Langner

Papa, wer ist das?“, will meine Tochter an einem verregneten Sonntagnachmittag von mir wissen. 

„Deine Urgroßeltern bei ihrer Hochzeit.“ Da meine knappe Antwort scheinbar nicht genügt, setzt sie sich zu mir. Es ist schon länger her, daß ich den Hefter mit den vielen alten Fotos und Dokumenten das letzte Mal in meinen Händen hielt. Auch wenn die Ahnenforschung für mich einen durchaus hohen Stellenwert hat, so habe ich mir in den letzten Jahren nicht viel Zeit dafür genommen.

Während ich Bild für Bild mit den passenden Unterlagen wie Geburts- und Hochzeitsurkunden oder Feldpostbriefen in Verbindung bringe, schaut mir der Nachwuchs neugierig über die Schulter. „Warum hebst du die ganzen Sachen auf?“ „Weil sie mich daran erinnern, wer ich bin und wo ich herkomme“, versuche ich zu erklären.

„Schön, daß du sie nicht vergessen hast“, sagt meine Tochter und möchte ein Foto aufstellen.

Diese Ansicht hatte ich nicht immer. Besonders in der Schule war mir Geschichte oft ein Graus. Als ich aber erkannte, daß hinter diesen vielen vermeintlich langweiligen Daten stets tiefgreifende Erlebnisse der eigenen Vorfahren zu finden waren, ließ mich das Thema nicht mehr los.

Die Geschichte eines Ahnenforschers ist eben nicht einfach nur das Zusammentragen von historischen Geschehnissen, sondern vor allem etwas sehr Persönliches. Es geht um Ereignisse, die vorangegangene Generationen durchlebten und jene Realität von heute erst erschaffen haben.

„Aber du warst doch damals noch gar nicht da?“, läßt sie nicht locker. „Das stimmt. Aber vermutlich wäre ich auch jetzt nicht hier, übrigens genausowenig wie du, wenn es seinerzeit anders abgelaufen wäre.“

Und so wie ich einst schockiert war, als ich verstanden habe, daß ich nicht leben würde, wenn mein Großvater den Krieg nicht überlebt oder meine Großmutter nicht aus ihrer Heimat hätte fliehen müssen, reagiert auch meine Tochter sehr persönlich: „Schön, daß du sie nicht vergessen hast.“ Und ergänzt: „Wollen wir das Foto aufstellen?“ Mit einem sanften Lächeln antworte ich: „Warum eigentlich nicht?“