© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/23 / 19. Mai 2023

Schwarzes Prekariat
Kino: Die Milieustudie „A Thousand and One“ schildert ideologiefrei Schicksale im New Yorker Viertel Harlem
Dietmar Mehrens

Mit „Eintausendeins“ („A Thousand and One“) läuft am Himmelfahrtstag ein Spielfilm in den deutschen Kinos an, bei dem mal nicht böse Weiße schuld an schwarzem Elend sind, sondern sich das Prekariat die Suppe, die es auslöffeln muß, überwiegend selbst eingebrockt hat. Vor allem der verblüffende Ausgang der von Regisseurin A. V. Rockwell ersonnenen Geschichte hat nichts von apologetischer Kriminalitätsbeschönigung, wie sie im Zuge der „Black Lives Matter“-Ausschreitungen zum festen Bestandteil linker Narrative geworden ist. Er zeigt einfach, wie es manchmal ist.

Die Hauptdarstellerin teilt klassische Ghetto-Erfahrungen

Der Film, der in den USA Platz 6 der Kinokassen-Rangliste erreichte, handelt von der 22jährigen Inez (Teyana Taylor), die Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis den dramatisch endenden Versuch unternimmt, ihren sechsjährigen Jungen Terry (Aaron Kingsley Adetola) illegal der Obhut des Sozialamts zu entziehen. Sie entführt den Jungen und taucht mit ihm zunächst bei einer Freundin unter. Schließlich findet sie in einer heruntergekommenen Harlemer Wohnung eine Bleibe. Der Preis, den sie für das Zusammensein mit Terry zu zahlen hat, ist, daß sie unter falscher Identität leben muß.

Trotzdem findet Inez zunächst das große Glück, und zwar, in Gestalt des gutmütigen Lucky (William Catlett), buchstäblich. Für Terry wird Lucky zum Ersatz für den lange vermißten Vater. Doch dann erkrankt Lucky an Krebs. Und als zehn Jahre nach dem Einzug ihre Harlemer Wohnung (Nummer 1001) saniert werden muß, weiß Inez nicht, wie sie eine neue Unterkunft finden soll. Auch Terry, inzwischen zum jungen Mann herangewachsen, sucht nach Antworten. Der Junge hat sich überraschend als überdurchschnittlich begabt entpuppt und soll auf eine bessere Schule. Mit einem College-Abschluß könnte er dem Ghettoleben entfliehen. Er sucht daher nach Unterlagen für einen Förderantrag. Das lange gehütete Geheimnis droht aufzufliegen. Wird Terrys Intelligenz am Ende zum Sargnagel für seine Mutter?

Hauptdarstellerin Teyana Taylor begann ihre Karriere als Sängerin. Sie wurde von dem afroamerikanischen Rapper und Plattenproduzenten Pharrell Williams unter Vertrag genommen, ehe sie 2017 in der Fernsehserie „The Breaks“ auch als Schauspielerin bekannt wurde. Daß sie die zu allem entschlossene Frau aus prekären Verhältnissen so authentisch verkörpert, ist kein Zufall. Sie stammt selbst aus Harlem und teilt mit der von ihr gespielten Inez klassische Ghetto-Erfahrungen. Sie hat wie ihr Filmsohn Terry Halbgeschwister: Ihr Vater hatte drei Kinder mit einer anderen Frau. Mit 24 Jahren bekam Taylor selbst ihr erstes Kind. Auch Regisseurin und Autorin A. V. Rockwell weiß, wovon sie spricht. Sie wuchs ebenfalls in New York auf und setzt dem schwarzen Prekariat ihrer Heimatstadt nun mit ihrer ersten großen Kinoproduktion ein filmisches Denkmal.

Ihre ideologiefreie Milieustudie, die vor allem im ersten Drittel fast dokumentarisch wirkt, räumt konsequent auf mit der Erzählung von den „bildungsfernen Haushalten“, dem zählebigen Marxisten-Märchen, laut welchem Herkunft und Milieu begabten Kindern die Chance zum gesellschaftlichen Aufstieg verbauen. Schon Émile Zola vertrat in seinem berühmten sozialkritischen Rougon-Macquart-Romanzyklus den Standpunkt: Milieu ist das eine, Vererbung das andere.

Trotz ungünstiger sozialer Voraussetzungen mit dem, was man kann, groß rauszukommen, das nennt man den amerikanischen Traum. Rockwell und Taylor zeigen mit ihrem Werdegang ebenso wie mit ihrem gemeinsamen Film „A Thousand and One“, daß es keinen Grund gibt, an diesen Traum nicht mehr zu glauben. Und auch Terry hat keinen.

Kinostart ist am 18. Mai 2023