© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/23 / 28. April 2023

Lang lebe der Boomer!
Die demographische Wende: Deutschlands geburtenstarke Jahrgänge gehen in den kommenden Jahren in Rente. Bis zu 16 Millionen Kräfte könnten fehlen. Die Zahl derer, die dann vom Sozialstaat profitieren, steigt erheblich. Was macht das mit dem Arbeitsmarkt?
Paul Leonhard

Der Boomer geht in Rente. Die zwischen 1955 und 1969 geborene Generation geburtenstarker  Jahrgänge verläßt den Arbeitsmarkt und tritt ihre Rente an. Die Demographie wandelt sich. Der Durchschnitt altert, die Bevölkerungszahl sinkt, und gepaart mit der starken Einwanderung wird die ethnische Zusammensetzung heterogener. Noch 2005 glaubte der damalige Bundespräsident Horst Köhler auf einem Demographie-Forum, die Probleme Deutschlands mit seiner Bevölkerungsstruktur seien in Wahrheit Lösungen. Der erwartete Rückgang sei gut, weil er das Wachstum der Weltbevölkerung ausgleiche. Seither hat die Politik kaum etwas getan, um die absehbaren Probleme im Arbeitsmarkt, im Rentensystem oder im Wohnungsbestand anzugehen.

Die Experten des Statistischen Bundesamtes erstellen nun elf Modellberechnungen der Entwicklung bis 2070. Hauptergebnis dieser „Bevölkerungsvorausberechnung“ ist: Deutschland benötigt mehr Zuwanderung. Das Amt geht davon aus, daß gegenwärtig 51,4 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 20 und 66 Jahren leben, die mit ihrer Arbeit zu Wirtschaftswachstum und Wohlstand beitragen. Bei niedriger Nettozuwanderung schrumpfe diese Altersgruppe bis Mitte der 2030er um 4,8 Millionen.

 Laut dem Amt wird die Zahl der Menschen im Rentenalter (ab 67 Jahren) in den 2020er und 2030er Jahren massiv ansteigen. Schon heute wird ein Rentner von 1,8 Arbeitern getragen. Bis 2030 sehen die Forscher das Verhältnis bei 1,5. Als das umlagefinanzierte Rentensystem eingeführt wurde, standen hinter jedem Rentner mehr als sechs Erwerbstätige. Von aktuell 16,5 Millionen Pensionären wird deren Zahl bis ins Jahr 2040 auf 20 Millionen anwachsen. Und die dritte Folge wird die wachsende Zahl der Pflegebedürftigen sein. Aus gegenwärtig 6,1 Millionen Menschen im Alter von 80 und mehr Jahren werden bis 2050 fast 10 Millionen, wenn die Sterblichkeit wie in den vergangenen Dekaden weiter verringert werden kann.

Millionen gehen in Rente / 630.000 Facharbeiter fehlen

Über eine Erhöhung der gegenwärtigen Geburtenrate von etwa 1,5 Kindern pro Frau ließen sich die absehbaren Probleme kaum lindern, da Bevölkerungspolitik zeitverzögert wirkt (JF 4/23). Zuerst müßte diese Vertrauen bei den potentiellen Elterngenerationen fassen. Eventuelle Kinder dürften laut Gesetz erst mit 15 Jahren eine Ausbildung ergreifen. Eine Änderung der Geburtenpolitik würde also erst in 20 Jahren den Arbeitsmarkt entspannen. Ungewiß bleibt für Karsten Lummer, den Leiter der Abteilung Bevölkerung beim Statistischen Bundesamt, dagegen die künftige Einwohnerzahl Deutschlands: „Bis 2070 ist deshalb sowohl ein Anstieg auf bis zu 90 Millionen bei starkem Zuzug als auch eine Stagnation oder ein Rückgang auf 75 Millionen bei geringem Zuzug möglich“, sagt Lummer.

Die aktuelle Lage verheißt da nichts Gutes. Zwei Millionen Stellen sind in der Bundesrepublik unbesetzt, meldet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im März als neues Allzeithoch. 630.000 ausgebildete Facharbeiter fehlten bereits 2022. Die Zahl der Stellenangebote liegt laut dem Jobportal Indeed trotz aller wirtschaftlichen Unsicherheiten aktuell mehr als 50 Prozent über dem Vor-Corona-Niveau. Laut Zentralverband des Deutschen Handwerks fehlen heute allein 250.000 Handwerker. 19.000 Lehrstellen blieben unbesetzt. 2017 hatte eine Umfrage des Zentralverbands des Deutschen Handwerks ein Drittel der 5,6 Millionen Selbständigen und Beschäftigten als 51 Jahre oder älter erfaßt. 360.000 Lehrlinge absolvieren die meist zwei- bis dreijährige Ausbildung. Auch der öffentliche Personennahverkehr spürt den Schwund. Jedes zweite Unternehmen hat in einer Branchenumfrage des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) angegeben, 2022 aus personellen Gründen den Fahrbetrieb zumindest zeitweilig eingeschränkt zu haben.

Um die von den „Boomern“, der Generation zwischen 1955 und 1969, hinterlassene Lücke zwischen angebotenen und nachgefragten Arbeitsstellen zu schließen, benötige Deutschland laut Statistischem Bundesamt wenigstens 400.000, besser 500.000 zusätzliche Arbeitskräfte jedes Jahr bis 2060. Diese will die Politik hauptsächlich im Ausland gewinnen.

Bei der hohen Nettozuwanderung, die Deutschlands Wohlstand retten soll, ist bereits ein späterer Renteneintritt, eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und mehr Vollzeit statt Teilzeit vorausgesetzt, was nach Berechnungen von Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) „das Erwerbspersonenpotential um 2,4 Millionen Menschen erhöhen“ könnte. Der Wanderungssaldo liege seit der Wiedervereinigung im Durchschnitt bei 300.000 Menschen, die jährlich hinzukommen, sagt Migrationsforscher Brücker. Nach Ansicht von Brücker fehlen 2060 mindestens 16,4 Millionen Arbeitskräfte.

„Die Zahl der heute 15- bis 24jährigen ist um rund 500.000 kleiner als die Zahl der 55- bis 64jährigen“, ergänzt IW-Arbeitsmarktforscher Oliver Stettes. Erfahrungsgemäß kommen nur etwa 75 bis 80 Prozent eines Jahrgangs wirklich auf den Arbeitsmarkt. Auch daß mehr Frauen für den Arbeitsmarkt requiriert werden könnten, halten die Ökonomen für eine Illusion: „Es wird oft übersehen, daß Deutschland nach Finnland bereits die zweithöchste Erwerbstätigenquote bei Frauen in der EU hat.“ Zudem wirkt sich eine hohe Erwerbsbeteiligung der Frauen auf die künftige Demographie nur dann nicht negativ aus, wenn es genügend Betreuungsplätze für Kinder gibt. Daran mangelt es aber ebenfalls fast in ganz Deutschland. Nur Berlin, Hamburg und Sachsen-Anhalt können laut Statistik genug Betreuer aufbieten. In Niedersachsen, Bayern und dem Saarland waren dagegen sogar mehr Erzieher-Arbeitsstellen als arbeitssuchende Erzieher bei der IAB gemeldet. Als Problem erkennt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW), daß die Berufsabschlüsse Zugewanderter zu häufig nicht anerkannt würden. 2021 konnten lediglich 46.000 ausländische Berufsabschlüsse hierzulande geltend gemacht werden.

Ausbildung von Arbeitslosen kann den Mangel nicht beheben

Daß Not kein Gebot kennt, ist inzwischen im Gesundheitswesen Alltag. Dieses funktioniert nur noch, weil Gesundheits- und Krankenpfleger sowie Ärzte aus den östlichen Nachbarländern verhältnismäßig unkompliziert Arbeitsgenehmigungen erhalten. 14 Prozent des Gesundheitspersonals waren 2021 über 60 Jahre alt. Weitere 27 Prozent sind 50 bis 60 Jahre alt. Eine Altersverteilung, die dem statistischen Durchschnitt der deutschen Bevölkerung in den jeweiligen Altersgruppen entspricht.

Von den Auswirkungen der Überalterung besonders betroffen werden die ostdeutschen Flächenländer sein. In den Ballungsräumen werde die Erwerbsbevölkerung eher stabil bleiben als in ländlichen Regionen, schätzt das Statistische Bundesamt. Eine aktuelle Studie der Versicherungswirtschaft sieht aber auch im Westen drohende Probleme. Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen seien am stärksten von den demographischen Kosten betroffen, weil der Renteneintritt der Babyboomer, milliardenschwere Lücken in die Länderetats reiße. In Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen oder Sachsen-Anhalt würden dagegen die altersabhängigen Ausgaben die Einnahmen etwas weniger stark übersteigen als im Süden und Westen der Republik.

Fragt man die Deutschen, wie der Entwicklung der Bevölkerungstruktur und dem Fachkräftemangel begegnet werden könnte, bevorzugen 78 Prozent die Aus- und Weiterbildung vor allem von Langzeitarbeitslosen. Bei der Umfrage des Ifo-Instituts unter 4.000 Menschen nannten nur zwölf Prozent eine Zuwanderung von Ausländern in den Arbeitsmarkt. Aus Sicht der Arbeitsmarktforscher unterschätzt eine Mehrheit der Deutschen die Tragweite des Problems für den Wohlstand des Landes. Stettes, der beim arbeitgebernahen IW das Themenfeld „Arbeitswelt und Tarifpolitik“ leitet, sagt, daß „alle inländischen Potentiale nicht ausreichen, um die Lücke zu füllen“.

Einzig mehr Roboter und Künstliche Intelligenzen bergen laut verschiedenen Studien ein Entlastungspotential gegen den kommenden Arbeitskräftemangel. Viele Berufe lassen sich bisher zwar schwer durch Maschinen ersetzen. Doch eine Studie der KI-Firma OpenAI berechnet, daß 19 Prozent aller US-Arbeitsplätze zu einem hohen Grad – das heißt bei der Hälfte aller anfallenden Aufgaben – durch Künstliche Intelligenzen beeinflußt werden. Die US-Beratungsfirma Goldman Sachs berechnete jüngst, daß etwa 300 Millionen Arbeitsplätze weltweit wegfallen könnten oder zumindest stark verändert werden. Administrative und juristische Funktionen seien hier ebenso stark betroffen wie Mathematiker, Steuerfachangestellte oder Übersetzer, Schriftsteller und Journalisten.