© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/23 / 14. April 2023

Na, dann ratet mal
Bürgerräte: Im Herbst startet ein neues politisches Gremium/ Verfassungsrechtler äußern starke Bedenken
Paul Rosen

Dem Bundestag, der obersten Vertretung des deutschen Volkes, wird ein neues Gremium an die Seite gestellt werden. Im September wird ein „Bürgerrat“ in Berlin die Arbeit aufnehmen. Dabei handelt es sich um ein Lieblingsprojekt von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), die sich mit dem neuen Rätesystem offenbar ein persönliches Denkmal setzen will. Der aus 160 ausgelosten Mitgliedern bestehende Bürgerrat soll keine gesetzgeberischen Kompetenzen erhalten, sondern dem Bundestag Empfehlungen überreichen. In der Praxis droht jedoch der Aufbau einer Parallelstruktur, der zwar die demokratische Legitimation fehlt, die aber andererseits recht gut in die rot-grün geprägte Berliner vorpolitische Szene aus Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Bürgerinitiativen, Bewegungen und diversen Arbeitskreisen mit zumeist zweifelhafter demokratischer Legitimation paßt.

Der Weg in die neue Bürgerratswelt ist mit guten Vorsätzen gepflastert: „Viele Menschen finden sich mit ihren Ansichten in den parlamentarischen Debatten nicht mehr wieder … Bürgerräte haben das Potential für gute Entscheidungen, weil die Bürgerinnen und Bürger häufig außerhalb eingefahrener Bahnen denken. So können Blockaden aufgebrochen und neue Gestaltungsspielräume eröffnet werden“, erklärt die Bundestagspräsidentin. Laut Bas wird der Bundestag im Sommer den ersten Bürgerrat einsetzen und ihm ein Thema mit auf den Weg geben.

Vorbild für den deutschen Bürgerrat sind Bürgerräte in der Republik Irland. Dort kam es durch die Arbeit der Räte zu Volksentscheiden, mit denen das Recht auf gleichgeschlechtliche Eheschließungen eingeführt und eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts durchgesetzt wurden. Damit erwiesen sich Bürgerräte in Irland als willkommener Hebel, um die starke Front von konservativen Politikern und katholischer Kirche aufzuweichen und schließlich zu durchbrechen. Das sind möglicherweise auch die eigentlichen Intentionen von Bas, wenn sie den Bürgerrat als ein „neues Instrument zur Belebung der Demokratie“ bezeichnet. Umgekehrt heißt das: Von lebendiger Demokratie kann so lange keine Rede sein, wie nicht-fortschrittliche Kräfte eine Mehrheit oder eine Sperrminorität haben. In Deutschland sind Bürgerräte auf unteren staatlichen Ebenen bekannt. Es gibt sie in Baden-Württemberg und in mehreren Kommunen.

Die Bundestagsverwaltung hat bereits im Rahmen einer europaweiten Ausschreibung Partner zur Schaffung des Bürgerrates gewonnen. Dazu gehören der von den Grünen-Politikern Lukas Beckmann und Gerald Häfner gegründete Verein „Mehr Demokratie“. Weiterer Partner ist das Nexus-Institut. Die in der Leitung von Nexus tätige Christiane Diemel ist langjähriges SPD-Mitglied und war früher Staatssekretärin in den Landesregierungen von Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Hinzu kommt das Beratungsunternehmen Institut für Organisationskommunikation (IFOK). Das ist in Berlin bestens vernetzt und bekam kürzlich vom Gesundheitsministerium Karl Lauterbachs (SPD) einen Etat für Öffentlichkeitsarbeit von zwölf Millionen Euro.

Warnungen vor einer  Konkurrenz zum Parlament

Die genannten Organisationen sollen zusammen mit dem „Institut für partizipatives Gestalten“ aus 20.000 per Los bestimmten Bürgern aus ganz Deutschland 160 Teilnehmer herausfiltern und diese während ihrer Arbeit im Bürgerrat begleiten. Ziel sei ein „möglichst umfassendes Abbild der Bevölkerung“. Das Ganze soll ein Dauerprojekt werden. Drei Bürgerräte soll es in der aktuellen Wahlperiode geben. In diesem Jahr stehen dafür drei Millionen Euro zur Verfügung. 

Bas hat somit vollendete Tatsachen geschaffen. Der Bundestag kann nur noch die Themen für die Räte festlegen. Eine eigentlich notwendige Debatte insbesondere über den Aspekt der Legitimationskonkurrenz zwischen Bundestag und Bürgerrat hat nie stattgefunden und ist offensichtlich nicht erwünscht. Dabei hatten die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages gewarnt, es dürfe „nicht der Eindruck erweckt werden, die Durchführung von Bürgerräten sei ein dem Vorgang der ‘Abstimmung’ oder ‘Wahl’ gleichwertiger Kommunikations-, Integrations- und Legitimationsvorgang zwischen Volk und Staatsgewalt“. Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung warnte in einer Studie davor, das Problem der Legitimationskonkurrenz auf die leichte Schulter zu nehmen. Bürgerräte könnten eine demokratisch nicht kontrollierte und nicht legitimierte Wirkung entfalten, die immer wieder unterschätzt werde.

In einer Sitzung der Bundestagskommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit am 1. Dezember 2022 wurde ebenfalls deutliche Kritik laut. So warnte der Verfassungsrechtler Christoph Möllers von der Berliner Humboldt-Universität den Bundestag davor, sich mit einem Bürgerrat selber Konkurrenz zu machen. Der nordrhein-westfälische Verfassungsrichter Professor Bernd Grzeszick berichtete aus der Beobachtung unterer Ebenen von der Gefahr, daß vor allen Dingen diejenigen an den Räten teilnehmen würden, die sich ohnehin schon mit der Thematik beschäftigen würden. Und der FDP-Abgeordnete Stephan Thomae warnte vor der Illusion, daß ein Bürgerrat zu einer Art Überparlament mit „Wunderkraft“ werden könne. 

Doch von solchen Einwänden unbeeindruckt macht sich die Bundestagsverwaltung in den kommenden Wochen gemeinsam mit den privaten Partnern daran, die Sitzungen des ersten Bürgerrates vorzubereiten. Bundestagspräsidentin Bas jedenfalls gab sich schon ganz euphorisch, „im Herbst richtig durchstarten“ zu können.