© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/23 / 24. März 2023

Frisch gepreßt

Kolonialismus. Der Blick des Spiegel-Redakteurs Dietmar Pieper vom Schreibtisch seiner Redaktion fiel auf die roten Klinkerfassaden der Hamburger Speicherstadt, und das, obwohl „ich nur wenig verstanden habe“, bekennt der 60jährige Journalist. Nach Veröffentlichung seines aktuellen Buches weiß er aber heute, daß diese Gebäude „das größte und bedeutendste Denkmal des Kolonialismus in Deutschland“ sind, die es „ohne den Import von Kolonialwaren, die von unfreien Menschen angebaut, geerntet und abtransportiert wurden, wohl nicht gegeben hätte“. Dieses Bekenntnis des Autors im Vorwort läßt schnell den Charakter seines Werkes erkennen, das den Schwerpunkt weniger auf historisches Handwerk als auf die Prinzipien einer moralischen Anklageschrift legt. Seine Kernthese, daß der deutsche Kolonialismus „in erster Linie von hanseatischen Unternehmern geprägt wurde“, gerät allerdings durch mangelnde zeitliche, geographische und politische Stringenz etwas unter die Räder. Denn die deutsche Kolonialzeit war eben nur eine knapp dreißigjährige Episode, fast alle Kolonien waren im Grunde defizitär und von den an der Erschließung beteiligten Kaufleuten kam nur der Reeder Adolph Woermann zu einem nennenswerten Vermögen. Pieper behilft sich, indem er seine mit „Critical Whiteness“ gewürzte Kapitalismuskritik auf Prinzipien des Importhandels bis in die Sklavenhalterverhältnisse der Frühen Neuzeit ausdehnt oder das Geschäft hanseatischer Kaufleute in anderen Weltteilen beurteilt, wo sie mit Zucker, Kaffee, Salpeter und vor allem Tabak Geschäfte machten, ohne die Fair-Trade-Kriterien heutiger „Eine-Welt-Läden“ einzuhalten. Um ihr Verhalten ins möglichst schlechte Licht zu stellen, wird das koloniale Strafprozeßrecht mit Prügelstrafe oder der blutige Kolonialkrieg gegen die Hereros angeführt, bei denen Pieper auf den Pfaden des Völkermordtrommlers Jürgen Zimmerer sogar von Konzentrationslagern mit geplanten Massenmorden in Deutsch-Südwestafrika fabuliert. Grausame Übergriffe werden dann ohne Quellennachweis in Behauptungen wie „die deutschen Kolonialherren in Afrika waren berüchtigt durch ihre Prügelstrafen mit der Nilpferdpeitsche, ihr Wirtschaftssystem beruhte auf Zwangsarbeit“ verallgemeinert. In dieser denunziatorischen Art komplettiert Pieper das Bild des deutschen Kaufmanns als brutalen Sklavenhalter, dessen „auf Unrecht fußendes Vermögen und Besitz“ bis heute im Stadtbild von Hamburg oder Bremen sichtbar ist. Und dieser Faktor des „Unternehmens Welthandel“ habe bis heute immer noch Bestand, lautet denn auch das Fazit seiner historisch verkleideten Agitationsschrift. (bä) 

Dietmar Pieper: Zucker, Schnaps und Nilpferdpeitsche. Wie hanseatische Kaufleute Deutschland zur Kolonialmacht trieben. Piper Verlag, München 2023, gebunden, 349 Seiten, 24 Euro





Egon Erwin Kisch. Was sind phantasievolle Reportagen oder Interviews? Was sind Lügen? Fragen, die sich Journalisten nicht erst seit dem Skandal um den Spiegel-Reporter Claas Relotius stellen. Auch der altehrwürde, vielzitierte und hochverehrte Egon Erwin Kisch (1885–1948) nahm es mit der Grundlage seiner Geschichten aus Prag und der Welt nicht immer so ganz genau, weiß auch der Judaist Christian Buckard, welcher aktuell Kischs Leben schildert. Liebevoll detailreich und mit einem Herz für Kischs aufmüpfige bis revolutionären Umtriebe schildert der niederländische Philologe die „Weltgeschichte eines Prager Juden“. Egon Erwin Kisch teilte nachgewiesenermaßen Bekanntschaft mit den berühmten Literataten Franz Kafka, Franz Werfel oder Max Brod. Mit anderen Berühmtheiten wie Rainer Maria Rilke erfand der Jude, der immer mit deutschen oder anderen Minderheiten Mitgefühl zeigte, kurzerhand Begegnungen, so lebendig, daß sie die Leser meist echt zu sein schienen. Buckard, der schon viele vorwiegend jüdische Biographien beleuchtete, erzählt nicht nur die Lebensgeschichte, sondern auch die Entwicklung Kischs zu einem stilprägenden Journalisten, dessen Wirken bis heute eine ganze Darstellungsform bereichert und sogar vor über hundert Jahren die moderne Marketingsprache vorwegnahm: In Prag, so pries er sich und seine Kumpanen an, „brodelt und werfelt und kafkat und kischt es.“ Übrigens wechselte auch Spiegel-Reporter Claas Relotius kürzlich zur Werbeagentur Jung von Matt. (mp)

Christian Buckard: Egon Erwin Kisch. Die Weltgeschichte des rasenden Reporters. Die Biografie. Berlin Verlag, Berlin 2023, gebunden, 448 Seiten, 28 Euro