© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/23 / 24. März 2023

Des Kaisers schimmernde Wehr
„Vergrößern ohne Unterlaß“: Mit der Flottengesetzgebung vor 125 Jahren rüstete das Deutsche Reich zur See auf
Alain Felkel

Die deutschen Flottengesetze der Jahre 1898 und 1900 gelten bis heute als Startschuß des deutsch-britischen Wettrüstens, das angeblich zu einem der auslösenden Faktoren des Ersten Weltkriegs wurde. Dabei war es nicht das deutsche Kaiserreich, sondern Großbritannien selbst, das die Rüstungsspirale in Gang setzte. 

Das Jahr 1889 bedeutete eine Zeitenwende in der Geschichte des britischen Empire. Mit der Verkündung des Naval Defence Act erklärte Großbritannien den Two Power Standard als Leitsatz seiner weltweiten Seeherrschaft. Nach dieser Maxime sollte die britische Kriegsmarine immer so stark sein  wie die zwei nächstgrößten Seemächte zusammen. Um dies zu erreichen, wurden die Ausgaben für die Royal Navy auf 21 Millionen Pfund Sterling erhöht und der Bau der Flotte fünf Jahre, statt wie bisher ein Jahr lang, finanziert. Das Resultat konnte sich sehen lassen: Bis 1894 baute Großbritannien zehn Schlachtschiffe, 42 Kreuzer und 18 Torpedoboote. Der strategische Wert dieser Flotte bestand nach Meinung der Hohen Admiralität darin, andere Seemächte davon abzuschrecken, sich auf ein Wettrüsten mit Großbritannien einzulassen. Das Gegenteil war die Folge. Frankreich und Rußland zogen nach und bauten von 1893 bis 1894 insgesamt zwölf Schlachtschiffe und damit zwei mehr als Großbritannien. Das ließ sich das Empire nicht bieten. Bereits 1894 investierte es mehr als 31 Millionen Pfund Sterling in ein weiteres Flottenprogramm. Nun setzte auf allen Weltmeeren ein allgemeines Wettrüsten ein, das die Royal Navy ständig dazu zwang, ihre Flotte zu vergrößern. 

Tirpitz sah Großbritannien als Hauptfeind Deutschlands an

In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts gaben Rußland, Österreich-Ungarn, Japan, Italien, die USA und das Osmanische Reich den Bau neuer Kriegsschiffe in Auftrag. Es war das Zeitalter des Navalismus, basierend auf den militärtheoretischen Schriften Alfred Thayer Mahan, dessen Credo sich in drei Worten zusammenfassen ließ: „Seemacht ist Weltmacht“. Von der Welle des Navalismus wurde auch das 1871 gegründete Deutsche Reich erfaßt, dessen Marine nur aus einigen veralteten Linienschiffen, Panzerdeckkreuzern sowie Torpedobooten bestand. Als der Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Admiral Friedrich von Hollmann, im März 1897 seine Pläne zum Ausbau der deutschen Flotte beim Reichstag einreichte, wurde dies abgelehnt. Daraufhin ersetzte ihn Kaiser Wilhelm II. durch Konteradmiral Alfred Tirpitz. Jener hatte schon im Dezember 1895 geäußert, daß Deutschland keine Schlachtkreuzer, sondern Schlachtschiffe bräuchte, und damit die Zustimmung Wilhelms II. gefunden. 

Nun forderte er mit Unterstützung des Kaisers vom Reichstag die Verabschiedung eines Flottengesetzes, das die Aufrüstung der Kaiserlichen Marine vorsah. Tirpitz verfolgte bei seiner Kalkulation den Risikogedanken. Seiner Meinung mußte die deutsche Flotte so stark sein, daß sie der Royal Navy nur im Verhältnis von zwei zu drei unterlegen war, womit das Risiko im Konfliktfall für die Briten zu hoch gewesen wäre, das Deutsche Reich zur See anzugreifen. Außerdem konnte eine starke Flotte immer als Druckmittel für Verhandlungen benutzt werden. Tirpitz sah Großbritannien nicht umsonst als Hauptfeind Deutschlands an. Das Deutsche Reich war ein prosperierender Industriestaat, der zugleich Kolonialmacht war und sich auf dem Weg zur Weltmacht wähnte. Durch die Qualität seiner Produkte sowie die Produktivität seiner Bevölkerung wurde es langsam zum Hauptkonkurrenten des Empires auf den Weltmärkten, so daß ein militärischer Konflikt nicht unwahrscheinlich schien. 

Um den bis dahin flottenfeindlichen Reichstag unter Druck zu setzen, versuchte Tirpitz, die deutsche Nation durch Öffentlichkeitsarbeit für sein Flottengesetz zu gewinnen. Der Konteradmiral zog hierbei jedes Register moderner PR-Arbeit und gründete Pressebüros, welche die Bevölkerung durch Presseartikel, Informationsbroschüren sowie Weißbücher mit Informationen über die Flotte versorgten. Des weiteren flankierte die Gründung des Deutschen Flottenvereins sein Vorhaben, was der Kampagne enormen Auftrieb gab. Tirpitz’ Rührigkeit wurde nach langwierigen Parlamentsdebatten letztendlich belohnt. Am 10. April 1898 bewilligte der Reichstag das Flottengesetz. Der Gesetzesentwurf sah die Bildung von zwei Geschwadern zu je acht Linienschiffen vor, die um ein Flottenflaggschiff und zwei Reserveeinheiten ergänzt wurden. Hinzu kamen acht Küstenpanzerschiffe, zwölf Große und dreißig Kleine Kreuzer. Alle Schiffe sollten nach Fertigstellung fünfundzwanzig Jahre lang verwendet und danach automatisch durch Neuschiffe ersetzt werden, ohne daß diese erneut beantragt werden mußten. Damit hatte Tirpitz de facto die Kaiserliche Marine neu gegründet – was ihm im Volksmund den Beinamen „Vater der Flotte“ eintrug. 

In Großbritannien nahm man kaum Notiz vom ersten Flottengesetz Tirpitz’. Erst als die Briten infolge des Ausbruchs des Burenkrieges zwei deutsche Frachtschiffe beschlagnahmten und Tirpitz die Erregung der Öffentlichkeit über den Vorfall nutzte, das zweite Flottengesetz durchzubringen, erweckten die deutschen Rüstungsbemühungen den ersten Argwohn Großbritanniens. Denn das zweite Flottengesetz von 1900 ergänzte die Linienschiffsflotte um ein weiteres Geschwader sowie ein Flottenflaggschiff, womit die deutsche Hochseeflotte auf 38 Linienschiffe anwuchs, die um zwei Große, acht Kleine Kreuzer und zwei Reserve-Linienschiffe vermehrt wurden. 

Nun ließ sich Tirpitz’ Flotte nicht mehr ignorieren. Aber noch profitierte das Kaiserreich davon, daß das Empire in Frankreich seinen Hauptfeind zur See sah. Als jedoch Großbritannien und Frankreich ihre politischen Differenzen 1904 in der Entente Cordiale beilegten, verlegte die britische Admiralität ihre Kampfverbände vom Mittelmeer in die Nähe der Britischen Inseln zurück, wobei weitere Marineverbände aus Übersee folgten. Gleichzeitig ließ der neue Erste Seelord, Admiral John Fisher, am 2. Oktober 1905 ein neuartiges Riesenkampfschiff auf Kiel legen, das am 3. Oktober 1906 in Dienst gestellt wurde: die „Dreadnought“ („Fürchtenichts“). 

Der Bau der Dreadnought-Klasse leitete eine neue Phase des deutsch-britischen Wettrüstens ein und schockierte die ganze Welt, besonders das Deutsche Reich. Der 160 Meter lange, 25 Meter breite und 9,45 Meter tiefgehende Stahlkoloß hatte eine Gesamttonnage von 22.500 Tonnen und stellte damit das bisher größte Schlachtschiff Englands, die „Majestic“, in den Schatten. Doch das Neuartige der Dreadnought bestand nicht in seinen gigantischen Ausmaßen, sondern in seiner Konstruktion und Bewaffnung. Das Mammutschiff war mit zehn 30,5-Zentimeter-Kanonen in fünf Türmen bewaffnet und damit damals das feuerstärkste Schlachtschiff der Welt. Zudem fuhr es 21,5 Knoten schnell und war mit fast 28 Zentimeter dicken Stahlplatten gepanzert, was das Riesenschlachtschiff fast unverwundbar machte. Fishers Plan hatte indes auch strategische Nachteile, was Tirpitz sofort erkannte. Mit dem Bau der Dreadnought hatte die Royal Navy alle vorherigen Baureihen faktisch entwertet und eine neue Rüstungsstufe erreicht. 

Trotzdem war die Kaiserliche Marine dazu gezwungen, nachzurüsten. Die Flottennovelle von 1908 trug der neuen Entwicklung Rechnung. Sie sah vor, bis 1910 vier Dreadnoughts jährlich zu produzieren, was in Großbritannien heftige Gegenreaktionen hervorrief. Obwohl der britische Marineminister Reginald McKenna sofort die Kampfparole „Increase with incease“ („Vergrößern ohne Unterlaß“) ausgab und damit den baldigen Bau von vier Dreadnoughts forderte, entsponnen sich in London turbulente Haushaltsdebatten zwischen konservativen Befürwortern und liberalen Gegnern der Flottenrüstung. Doch dabei blieb es nicht. Durch gezieltes Verbreiten von Fake News schürten einige Admirale und Minister in Zusammenarbeit mit der konservativen Presse auf der Insel bei den Briten eine derartige Angst vor der deutschen Flotte, daß das ganze Land vom „Navy Scare“ (Flottenpanik) erfaßt wurde. Auf diese Weise erreichte McKenna, daß die britische Regierung im selben Jahr zusätzlich zu den bereits georderten Schiffen vier weitere Dreadnoughts in Auftrag gab.

Die Briten hatten 1908 das Wettrüsten für sich entschieden

Die britischen Gegenmaßnahmen sprengten den bisherigen Finanzierungsrahmen des deutschen Flottenprogramms. Die Briten hatten das Wettrüsten für sich entschieden. Vergeblich versuchte Tirpitz nochmals alle Kräfte zu mobilisieren. Der seit 1909 regierende Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg war nicht mehr gewillt, erneut Geld in die deutsche Flotte zu investieren, sondern rüstete das Heer auf. Das dringlichste Ziel des neuen Reichskanzlers war der Abschluß eines Neutralitätsabkommens mit Großbritannien, für den Fall, daß das Deutsche Reich in einen europäischen Krieg verwickelt werden sollte. 

Trotzdem blieb das Flottenwettrüsten weiterhin auf der Agenda britischer wie deutscher Außenpolitik. Im Februar 1912 kam der englische Kriegsminister Richard Haldane mit der Absicht nach Berlin, einen Ausweg aus dem maritimen Wettrüsten zu finden. Obwohl das Deutsche Reich sich in der Folgezeit bereit erklärte, weitere Flottenrüstungen zeitweilig auszusetzen, scheiterten die Verhandlungen daran, daß der Reichskanzler ein Neutralitätsabkommen mit dem Empire anstrebte, und die Briten letztendlich ein Gesamtflottenstärkeverhältnis von eins zu zwei zugunsten der Royal Navy verlangten, Tirpitz allerdings nur einem Verhältnis von zwei zu drei zustimmte. Damit endeten die letzten Abrüstungsbemühungen, bevor der Krieg im August 1914 ausbrach. 

Das deutsch-britische Wettrüsten von 1898-bis 1914 zeigt klar, daß entgegen der vom Hamburger Historiker Fritz Fischer in den fünfziger Jahren formulierten These nicht allein das Deutsche Reich die Schuld an der Eskalation der Flottenfrage trug, sondern vielmehr das britische Empire den deutsch-britischen Antagonismus systematisch verschärft hatte.