© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/23 / 17. März 2023

Sowjetrußland im Urteil sozialdemokratischer Theoretiker
Staatssklaverei oder Despotie
(dg)

Wenn sich Karl Marx’ Zukunftsgesellschaft verwirkliche, werde sie einem „Kasernen-Kommunismus“ gleichen. Diese Prognose des Anarchisten Michail Bakunin aus den 1860ern schien sich für Karl Kautsky, den führenden sozialdemokratischen Theoretiker der Kaiserzeit, nach Lenins Machtergreifung zu erfüllen: Im Handumdrehen hätten die Bolschewisten in Rußland eine „Staatssklaverei“ errichtet. Während sich die Weimarer SPD in ihren Görlitzer (1921) und Heidelberger (1925) Grundsatzprogrammen zur Republik als zur unwiderruflich gegebenen Staatsform bekannte, die in Richtung Sozialismus nur auf parlamentarischem Wege überwunden werden dürfe, steuerten dagegen  die österreichischen Genossen unter ihrem Chefideologen Otto Bauer einen deutlich freundlicheren Kurs und wollten etwa von den Bolschewiki – nicht von Antonio Gramsci – lernen, wie man die kulturelle Hegemonie über das Landproletariat durch „gewaltlose Überzeugungsarbeit“ erringt (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 5/2022). Bauer habe damit, wie der Berliner Politologe Richard Saage anhand der Neuauflage des Standardwerks von Uli Schöler („‘Despotischer Sozialismus’ oder ‘Staatssklaverei’“, 2021) ausführt, Stalins Diktatur noch in den 1930ern Demokratiepotentiale wie später unter Michail Gorbatschow zugetraut. 


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