© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/23 / 03. März 2023

Von „Berlin Alexanderplatz“ hinab zu „Babylon Berlin“
Weltliteratur in TV-Format gepreßt
(dg)

Literaturhistorisch gilt Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (1929) als einzig bedeutender deutscher Großstadtroman. Sein als Kassenarzt in einem Berliner Arbeiterviertel tätiger Verfasser, von 1921 bis 1929 SPD-Mitglied, wollte mit diesem Epos erzählen, wie es „einem guten Menschen ergeht, wenn er ins Räderwerk der kapitalistischen Gesellschaft“ gerät. Dieses tragende gesellschaftskritisch-politische Motiv des Sozialisten Döblin fehlt in der Neuinterpretation des Literaturwissenschaftlers Jan Hurta (Bamberg) jedoch vollständig (Wirkendes Wort, 3/2022). Stattdessen repetiert er die in der Döblin-Forschung seit langem etablierte These, neben dem menschlichen Helden Biberkopf sei die Weltstadt Berlin als „Exerzierfeld der Moderne“ der zweite, gleichwertige Protagonist des Romans. Döblin beschreibe den Vier-Millionen-Einwohner-Moloch daher zunächst als Funktionsgefüge verschiedener Sektoren städtischen Zusammenwirkens, vom öffentlichen Nahverkehr bis zum Friedhof. In tieferen Erzählschichten erscheine Berlin dann als ein von Reizüberflutung geprägter Ort polyphoner Sinnlichkeit, als selbständiger Organismus („Stadtkörper“) und endlich, nicht nur in der Verbrecherwelt,  als Schauplatz des „knallharten Kampfes ums Dasein“. Mit der Konsequenz der apolitischen Präsentation der Metropole als apokalyptischer, der „Hure Babylon“ gleichender Ort. Womit Hurta Döblins Weltliteratur auf das Niveau der Endlos-TV-Serie „Babylon Berlin“ herabdrückt, die als bunter Bilderbogen unter der Regie von Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten seit 2017 zeigt, wie wohl Klein Moritz sich den Untergang der Weimarer Republik in der Reichshauptstadt vorstellt. 


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