© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/23 / 03. März 2023

Kleists „Verlobung in St. Domingo“ und das N-Wort
Vereindeutigungen entgegenwirken

In Heinrich von Kleists kurz vor seinem Selbstmord im November 1811 publizierter Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“, die auf Haiti während des ersten erfolgreichen Befreiungskampfes von Schwarzen gegen europäische Kolonialherren spielt, kommt auf knapp 40 Seiten mehr als fünfzigmal das Wort „Neger“ vor. Für ihre Studie über die „Verschränkung von race und gender“ in diesem Text haben sich die Literaturwissenschaftler Laura Beck (Bremen) und Julian Osthues (Lüneburg) gleichwohl entschlossen, dieses tabuisierte „N-Wort“ nicht krampfhaft zu umschreiben, genausowenig wie die „rassifizierenden Charakter“ aufweisenden Begriffe „Farbige“, „Mestizin“, „Mulattin“ oder „Rasse“. Zwar böten postkoloniale Theorie und Critical Whiteness Studies sprachliche Gegenvorschläge an, um Vorurteile aus Kolonialzeiten nicht zu verfestigen, doch folge man dem in der eigenen Interpretation nicht, um durch Eingriffe in Originalzitate nicht „problematische Diskurse zum Verschwinden zu bringen“. Nur durch Verzicht auf solche Sprachzensur könne die Novelle im Deutschunterricht ihr kritisches Potential wirklich entfalten. Denn wichtig sei, älterer Literatur in der „Begegnung der Zeiten ihr Recht zu lassen“. Indem Schüler die Fremdheit des Textes, seiner Sprache und seiner historischen Verwurzelung nicht als Hindernis, sondern als produktives Moment erfahren, lernen sie Widersprüche auszuhalten. Damit werden ihre „Mehrdeutigkeitstoleranz“ und ihre „Komplexitätserfahrung“ geschult. Was dazu beitrage, den gegenwärtig in öffentlichen Diskursen zu beobachtenden „Tendenzen zur Vereindeutigung der Welt entschieden kritisch entgegenzuwirken“ (Der Deutschunterricht, 5/2022).


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