© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/23 / 03. März 2023

Verhärtete Fronten
Manifest für den Frieden: Die deutsche Gesellschaft streitet nicht um die Ukraine, sondern um sich selbst
Konstantin Fechter

Ein völlig desillusionierter Ernst Jünger notierte am 24. Mai 1917 nahe Cambrai in sein Kriegstagebuch: „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“ Die Zeilen verdeutlichen, daß selbst ein so nüchterner Beobachter wie der spätere Pour-le Mérite-Träger angesichts der Sinnlosigkeit des Sterbens verzweifeln konnte. Über einhundert Jahre später ähneln die Eindrücke des Niemandslands um Bachmut frappierend jenen des Ersten Weltkrieges. Der Schwung der ersten Offensiven ist einer Fronterstarrung gewichen, in der Stellungskampf in Zermürbungskrieg übergeht. Sollten die Rüstungspotentiale der verfeindeten Kriegswirtschaften in Soldatenleben aufgewogen werden, ist mit einer enormen Anzahl weiterer Gefallener im osteuropäischen Grenzland zu rechnen. 

Angesichts dieser Lage sind Forderungen nach Verhandlungsimpulsen verständlich. Das nun durch Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierte Manifest für den Frieden bleibt jedoch ein problematisches Unterfangen, welches viel über Deutschland und nur sehr wenig über die Ukraine sagt. Zwar erkennt es Rußland als eine den Krieg überdauernde militärische Realität an, zu der dringlich ein erneuter diplomatischer Zugang gefunden werden muß, doch auf inhaltlicher Ebene kann es die Komplexität von Krieg und Frieden nicht erfassen. Die im Kern apolitische Argumentation spielt überwiegend mit den Ängsten der Bevölkerung vor einer „Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg“. 

Der Frieden steht dieser apokalyptischen Dystopie als ein substanzloses Ideal gegenüber, das durch reine Willensbekundung irgendwie erzwungen werden könne. Durch diesen beschwörenden Charakter erinnert das Manifest an einen Paian, jenen antiken Opfergesang, der auf dem Schlachtfeld zur Beschwichtigung der Kriegsgötter und Feinde angestimmt werden konnte.  

Doch Frieden als die ex negativo versuchte Definition einer Abwesenheit von Gewalt und Krieg bleibt ein eindimensionales Konstrukt und kann der enormen Erwartungshaltung, die mit diesem Begriff einhergeht, nicht gerecht werden. Was folgt auf Tag 1 des Waffenstillstandes? Wer wäre der Garant der größten Sicherheitsarchitektur Europas nach Zerfall der Sowjetunion? Aus Moskau und Kiew vernimmt man Maximalforderungen und keine territorialen Kompromisse. Putins Brandreden gegen den Westen sind mit verbittertem Zorn durchsetzt, offenbaren jedoch keine strategische Tiefe. Ohne die Formulierung von realistischen Kriegszielen wird die Gewalt für Bellizisten auf beiden Seiten der Front zu einer „bewaffneten Sophistik, die Fortsetzung der Kunst, recht zu behalten“ (Peter Sloterdijk). Im Kampf der Weltanschauungen aber rückt der Verhandlungsbeginn in weite Ferne. 

Die auch Wagenknecht und Schwarzer bekannte Wahrheit lautet: Niemand wartet derzeit auf wohlmeinende Ratschläge aus Berlin. Die Bundesrepublik hat eine nach der Wiedervereinigung mögliche Rolle als Ordnungsmacht in Osteuropa längst verspielt. Von seinen Verbündeten mißtrauisch beäugt und als sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer entlarvt, gilt Deutschland auch im Kreml mitnichten als Verhandlungspartner auf Augenhöhe, sondern als gut geeignetes Sozialbiotop für Desinformationskampagnen. Wer auch immer Nordstream als zentrale Energieader Mitteleuropas zerstörte – ob Freund oder Feind –, offensichtlich ist man allerorten von der politischen Unmündigkeit dieses Landes überzeugt.

Warum also der Aufruhr in der Phantomdiskussion um eine letztendlich irrelevante Friedensinitiative? Die deutsche Gesellschaft streitet nicht über Krieg und Frieden in der Ukraine, sondern um sich selbst. Seit Jahren befindet sich ihr neurotisiertes Gemeinwesen in einer autoaggressiven Eskalationsfuge, die permanent neue und perfidere Variationen der Verleumdung, Ausgrenzung und gegenseitigen Dämonisierung aneinanderreiht. 

In der nahtlosen Abfolge von Finanzkollaps, Asylkrise, Covid-Ausnahmezustand und neozaristischen Expansionsbestrebungen hat sich eine Phalanx der Entschlossenen gebildet, die keine Widerworte gegen ihren progressiven Forderungskatalog duldet und schrill nach dem autoritären Maßnahmenstaat ruft. Dem gegenüber hat sich ein diffuses Oppositionsmilieu ausgeprägt, das auf einen politischen Nenner zu bringen immer schwerer fällt. Es eint lediglich die fundamentale Ablehnung der etablierten Parteien, die als herrisch agierendes Machtkartell wahrgenommen werden. Der Ukrainekonflikt gerät so zum Stellvertreterkrieg innerdeutscher Befindlichkeiten. 

Aus dem oppositionellen Aufbegehren ist jedoch längst ein Mut der Verzweiflung geworden, der zunehmend skurrile Ausprägungen annimmt. „Putin, hilf uns“, lautete einst die Botschaft eines Plakats am Rande einer Pegida-Demonstration. Aus der innenpolitischen Perspektivlosigkeit nähren sich außenpolitische Erlösungsphantasien, was zur Überlagerung von Handlungskategorien führt, die scharf getrennt bleiben sollten. Wie die momentane Völkerverständigungsbereitschaft des Kremlautokraten ausfällt, erfuhr kürzlich der Vorsitzende der Alternative für Deutschland Tino Chrupalla, der zum Jahrestag „der Zerschlagung deutsch-faschistischer Truppen“ bei Stalingrad gemeinsam mit dem russischen Botschafter einen Kranz niederlegte und dabei medienwirksam vorgeführt wurde.

Die selbsternannte Friedenspartei AfD gerät so in ein Dilemma: Sie versucht sich durch die Assoziation mit positiv besetzten Begriffen wie „Verständigung“, „Ausgleich“ und „Deeskalation“ in ein besseres Licht zu rücken. Doch dabei entsteht eine eklatante Schieflage, da zu viele ihrer Parlamentarier durch prorussische Platitüden hervorstechen. Ein verbindendes antiwestliches Ressentiment mag eine temporäre Querfrontkonstellation mit der traditionell linksgerichteten Friedensbewegung ergeben, doch sie macht es ihren Gegnern zu einfach, die Partei als fünfte Kolonne der Russischen Föderation zu brandmarken. 

Das Feindbild AfD evolviert derzeit vom inländischen Verfassungsgefährder zum Kollaborateur eines außereuropäischen Imperialismus. Argumentativ ist es an dieser Stelle nur noch ein kleiner Schritt, ihr jegliche patriotische Gesinnung abzusprechen. „Heldentum“, „Opferbereitschaft“ und „Entschlossenheit“ – diese Attribute des Unbedingten leihen sich derzeit die Grünen als Träger einer frontfernen Kampfmoral auf Kosten des ukrainischen Volkes. Sie werden geschickt darin sein, die Prämissen des Nationalen in einer entstellten Form neu zu deuten. Ist die progressive Etikettierung des Heroischen vollzogen, bleibt die politische Rechte in der Schicksalsfrage Ukraine in Erinnerung als Sammlung all jener, die sich vor einer zu hohen Gasrechnung fürchteten.