© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/23 / 24. Februar 2023

Die Diktatur kam nicht über Nacht
Verschiedene Gesetze und Verordnungen im Frühjahr 1933 gaben Hitler immer mehr Macht / Nur der Reichspräsident blieb das letzte Regulativ
Stefan Scheil

Revolutionen bringen jeweils eine eigene Dynamik hervor. Nicht selten verlieren dabei diejenigen Personen buchstäblich den Kopf, die sie ursprünglich angezettelt haben. Fast immer findet bis zur Stabilisierung eines neuen Regimes jedenfalls ein schneller Wechsel von politischen Konstellationen und Rechtsformen statt. Zumindest letzteres galt auch für die „deutsche Revolution“ des Jahres 1933, von der seit jeher gestritten wird, wann sie überhaupt begonnen hat und zu welchem Zeitpunkt der Umbau der Weimarer Verfassung in einen diktatorischen Zustand eigentlich abgeschlossen gewesen sei.

Denn die Umstände irritierten. Formal gesehen, bedeuteten der 30. Januar 1933 und die Ernennung des Führers der nationalsozialistischen Partei zum Reichskanzler recht wenig an Umbau des politischen Systems. Kabinette und Kanzler hatte der Reichspräsident in den Vorjahren schon viele ernannt und entlassen. Das konnte er auch weiterhin tun. Im neu ernannten Kabinett der Regierung Adolf Hitlers waren die Nationalsozialisten zudem in einer klaren Minderheitsposition. Das deutete nicht auf eine grundsätzliche Änderung hin. Franz von Papen, Reichskanzler von Juni bis November 1932, glaubte fest daran, daß seine Machtbasis im 13 Köpfe umfassenden Kabinett mit nur drei NSDAP-Mitgliedern (neben Reichskanzler Hitler der Innenminister Wilhelm Frick und Hermann Göring als „Minister ohne Geschäftsbereich“) und dem Wohlwollen des Reichspräsidenten ausreichen würde, die Nationalsozialisten „einzurahmen“, um in Wirklichkeit selbst die Macht auszuüben. „Was wollen Sie denn! Ich habe das Vertrauen Hindenburgs. In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, daß er quietscht!“ entgegnete von Papen Kritikern an der Regierungsbildung unter Hitler.

Reichspräsident blieb vom Ermächtigungsgesetz „unberührt“

Offensichtlich war die Stimmung im Land aber anders gelagert. Der Regierungswechsel galt als deutlicher Umbruch, den einen zum Schrecken, den anderen als Chance auf eine Wende zum Besseren für das deutsche Volk. Dessen Existenz sahen damals auch liberale Reichstagsmitglieder wie der spätere Bundespräsident Theodor Heuss grundsätzlich als bedroht an. Heuss hatte angesichts vor allem der ständigen Drohungen des Auslands schon länger „einen Kampf der nationalen Befreiung“ gefordert, für den er als Politikwissenschaftler die inhaltliche Munition liefern wollte. Diese Stimmung im Land sollte bei jeder Analyse der „Machtergreifung“ im Blick behalten werden.

Vom Volk jedenfalls war viel die Rede, in jenen Gesetzen und Verordnungen, die im Frühjahr 1933 erlassen wurden und den Staat grundsätzlich zu verändern begannen. Den Auftakt gab bereits am 4. Februar 1933 die „Verordnung zum Schutze des Deutschen Volkes“. Es folgte am 28. Februar die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, als Konsequenz aus der Brandstiftung im Berliner Reichstag. Diese Verordnung galt und gilt vielen schon als der entscheidende Bruch in der Verfassungshierarchie, weshalb über die Ursachen des Reichstagsbrands auch zahlreiche Kontroversen nach dem alten Motto „cui bono?“ entsprossen sind. Nach den Reichstagswahlen vom 5. März fand sich schließlich am 24. März eine parlamentarische Mehrheit für das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, heutzutage weitläufig als „Ermächtigungsgesetz“ bekannt. Auch Theodor Heuss stimmte dieser Vorlage zu, als Abgeordneter der Deutschen Staatspartei.

Diese Gesetze und Verordnungen veränderten allesamt die innenpolitische Ordnung zugunsten des Staates. Besonders das Ermächtigungsgesetz übertrug die Gesetzgebungsgewalt vom Parlament auf die Exekutive und bildete damit die Grundlage zur Aufhebung der Gewaltenteilung, während die beiden Februarverordnungen die Versammlungsrechte einschränkten, politische Äußerungen unter Strafe stellten und damit die Arbeit politischer Parteien massiv behinderten. So beschränkte die Verordnung vom 4. Februar auch das in der Weimarer Zeit bis dahin geltende Versammlungsrecht. Versammlungen waren demnach anzumelden und konnten aufgelöst werden, allerdings nur im Einzelfall und „bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit“. Was solche, an sich nachvollziehbare Regelungen in der Praxis bedeuteten, zeigte sich allerdings schnell im heraufziehenden Wahlkampf für die Reichstagswahlen am 5. März. Obendrein setzte vor diesem Wahltermin die Reichstagsbrandverordnung des 28. Februar noch einmal neue Maßstäbe. Sie setzte etliche Artikel der Weimarer Verfassung ausdrücklich außer Kraft und kündigte Einschränkungen der persönlichen Freiheit, der Versammlungsfreiheit, der Meinungsfreiheit, des Briefgeheimnisses, sowie Hausdurchsuchungen explizit an. Zugleich wurde für etliche Straftatbestände die Todesstrafe neu eingeführt, darunter nicht nur für Brandstiftung, sondern auch für verschiedene Arten von Sabotage, sowie für Geiselnahme und Freiheitsberaubung zu politischen Zwecken. Letzteres hatte in den Wochen zuvor allerdings in großer Zahl vor allem durch SA-Abteilungen der Nationalsozialisten gegenüber Kommunisten stattgefunden. Doch es galt die Reichstagsbrandverordnung ausschließlich „zur Abwehr kommunistischer Gewaltakte“.

Mit dieser Verordnung wurden der Rechtsstaat und die Verfassungsordnung ohne Zweifel schon deutlich geschwächt. Immerhin fanden trotzdem eine Woche später noch einmal vergleichsweise freie Wahlen statt. Lediglich die KPD war dadurch massiv beeinträchtigt, daß etliche KPD-Reichstagsabgeordnete und knapp 3.000 Funktionäre nach dem 28. Februar in „Schutzhaft“ genommen und die Parteibüros geschlossen wurden. Bei den Wahlen erhielt die NSDAP auch diesmal keine Mehrheit, obwohl sich die deutschen Industriellen unter dem Druck der Ereignisse und einer direkten Ansprache Hermann Görings erstmals zu einer namhaften Millionenspende für die Anfang des Jahres fast bankrotte Partei herbeigelassen hatten. 

Mit dem Tod Hindenburgs war Hitlers Machtfülle komplett

Trotz allem jedoch galt noch immer grundsätzlich die Weimarer Verfassung. Die beiden bisher erlassenen Verordnungen hatten aus dem Kanzler Hitler formal noch keinen Diktator werden lassen. Einstweilen trug ihn die Stimmung aus nationalem Aufbruch und Gewalt gegen störende politische Gegner, es fehlte aber noch ein Schlußstein zur persönlichen Herrschaft. Diesen Stein setzte der Reichstag am 24. März mit einem für vier Jahre geltenden Ermächtigungsgesetz, laut dem „die Regierung“ nun ohne Zustimmung des Parlaments Gesetze erlassen konnte, ausdrücklich auch verfassungswidrige. Desgleichen konnte sie nach eigenem Ermessen Verträge mit auswärtigen Mächten schließen und mit einer aus heutiger Sicht fast schon skurrilen Neuheit ausdrücklich auch unbegrenzt Kredit aufnehmen. Bis dato hatte in deutschen Regierungskreisen die Vorstellung geherrscht, man solle grundsätzlich nur ausgeben, was man auch einnehme.

Auch wenn immer noch die Regierung ermächtigt wurde und nicht der Kanzler als Person: Mit der Verkündung des Ermächtigungsgesetzes hing die Verfassungsordnung des Deutschen Reiches am seidenen Lebensfaden des Reichspräsidenten. Denn dessen Rechte blieben auch durch das Ermächtigungsgesetz „unberührt“, wie es in Artikel 2 lapidar hieß. Zu diesen präsidialen Rechten gehörte es aber, den Reichskanzler ohne weiteres entlassen zu können, womit dann auch das Ermächtigungsgesetz als Ganzes komplett hinfällig gewesen wäre, wie es in Artikel 5 für den Fall eines Regierungswechsels vorgesehen war.

Wenn Paul von Hindenburg also das nationalsozialistische Treiben zu revolutionär oder zu widerrechtlich werden sollte, konnte er es immer noch jederzeit beenden. Eine Gelegenheit hätte etwa der 30. Juni 1934 geboten, als der Reichskanzler den rechtsstaatlichen Boden vollständig verließ. Er führte sich als Herr über Leben und Tod auf und ließ einige Dutzend angebliche Widersacher ohne Verfahren erschießen. Das ließ er das Volk in einer wilden Radioansprache auch wissen. Unter den Toten befand sich sein unmittelbarer Vorgänger im Amt, Kurt von Schleicher. So etwas hatte es in Deutschland noch nicht gegeben. Eine Entlassung des Regierungschefs nebst einer Reaktion von Militär und konservativen Kreisen hätte nicht verwundern können und wurde von nicht wenigen erwartet. Sie blieb jedoch aus.

Zehn Jahre später und mitten im Krieg wurde diese Option in einem verfassungsrechtlich ähnlichen gelagerten Fall dagegen gezogen: Die Herrschaft eines Benito Mussolini fand ihr Ende, als er am 25. Juli 1943 als Regierungschef entlassen wurde. „Der wirkliche Feind des Faschismus ist die Diktatur“, rief man ihm im faschistischen Großrat nach. Das wurde in Italien möglich, wo über dem Diktator immer noch ein König als Staatsoberhaupt mit eben diesem Recht thronte. Es wäre auch in Deutschland nicht unmöglich gewesen, zumindest für die Dauer der Amtszeit des Präsidenten Hindenburg, die nach seiner Wiederwahl im Frühjahr 1932 immerhin noch bis 1939 gedauert hätte. 

So recht waren die nationalsozialistische Machtergreifung und vor allem die persönliche Machtergreifung des Adolf Hitler denn auch erst abgeschlossen, als Paul von Hindenburg am 2. August 1934 auf einem ostpreußischen Gut den letzten Atemzug tat. Hitler hatte die letzte Bedrohung für seine ganz persönliche Machtübernahme erkannt und sorgte dafür, daß es keinen Nachfolger gab. Er führte in einem noch am gleichen Tag verkündeten Gesetz die Ämter des Kanzlers und des Reichspräsidenten als künftiger „Führer und Reichskanzler“ zusammen. Eine Volksabstimmung billigte diesen Schritt mit überwältigender und damals sicher nicht manipulierter Mehrheit. Revolutionen haben ihre eigene Dynamik. Die nationalsozialistische Revolution war hiermit an ihrem Ziel.