© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 8/23 / 15. Februar 2023

Wer will unter die Soldaten?
Personalnot: Der Bundeswehr fehlt seit Jahren der Nachwuchs. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist längst kein Tabu mehr
Christian Vollradt

Ein Gespenst geht um in Deutschland? Könnte meinen, wer den Bundesfinanzminister jüngst hörte. Nein, Christian Lindner fürchtet nicht, der Kommunismus kehre zurück, auch wenn die Wähler den parteipolitisch organisierten Liberalismus derzeit zu ignorieren scheinen (siehe Seite 4). Als der FDP-Chef von einer „Gespensterdiskussion“ sprach, bezog er sich auf die Debatte über eine Rückkehr zur Wehrpflicht, der Lindner eine klare Absage erteilte. Die stehe für seine Partei „überhaupt nicht zur Debatte“, alle Kraft müsse darauf konzentriert werden, „die Bundeswehr als hochprofessionelle Armee zu stärken“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.

Die junge Generation habe durch die Pandemie „so viel verloren, daß jetzt nicht noch über eine neue Dienstpflicht spekuliert werden sollte“. Lindner verwies zudem auf den Fachkräftemangel in allen Branchen. Daher würde es „großen Schaden verursachen, einen ganzen Jahrgang von Ausbildung und Beruf abzuhalten.“

Allerdings enden Diskussionen in aller Regel nicht damit, daß jemand sie für überflüssig erklärt. Angestoßen hatte das Thema Lindners neuer Kabinettskollege, Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Der hatte jüngst die Aussetzung der Wehrpflicht durch die schwarz-gelbe Bundesregierung im Jahr 2011 als Fehler bezeichnet. Die Wehrpflicht sei unter anderem wichtig gewesen, um in der Gesellschaft einen stärkeren Bezug zur Bundeswehr zu haben.

„Der Versuch einer 

Freiwilligenarmee ist gescheitert“

Pistorius ruderte allerdings schon wieder halb zurück. Er habe durch seine Feststellung „mitnichten die Wiedereinführung ins Gespräch gebracht“, betonte der Minister bei einem Besuch der Truppe. Auch Regierungssprecher Steffen Hebestreit hatte von Amtswegen das sicherheitspolitische Auflodern schnell austreten wollen: Die Wehrpflicht sei seit vielen Jahren ausgesetzt und die Struktur der Bundeswehr habe sich „massiv verändert“. Man verfüge „weder über die nötigen Kasernen“ zur Unterbringung von Rekruten, noch gebe es genügend Ausbilder. Den Umbau von der Wehrpflichtigen- zur Berufsarmee könne „man nicht einfach so rückgängig machen“. Die Debatte sei also, so der Scholz-Sprecher, „ein Stück weit unsinnig“.

Zu denen, die nichts von einer Wiedereinführung der Pflicht zum Dienst beim Barras halten, gehört auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn: „Die Wehrpflicht – so wie wir sie noch kennen – ist in der jetzigen Situation nicht erforderlich“, ist der höchste Soldat überzeugt.So seien für den Kampf im Cyberraum Wehrpflichtige „absolut ungeeignet“. Man brauche „gut ausgebildetes, in Teilen sogar hochspezialisiertes Personal“.

Das bemäntelt allerdings, was sich in der Tat „massiv verändert“ hat, nämlich zum Schlechteren: Seit Jahren hat die Bundeswehr ein gravierendes Nachwuchsproblem. Die angestrebte Stärke von gut 200.000 Soldatinnen und Soldaten erreicht sie nicht. Tatsächlich war es der Bundeswehr trotz der von der seinerzeitigen Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) 2016 verkündeten „Trendwende Personal“ nicht gelungen, ihre Personaldecke merklich zu stärken. 

Wie eklatant der Mangel an Menschen in der Truppe ist, zeigt die Antwort des Bundesverteidigungsministeriums auf eine Anfrage der AfD. Fast 27.000 Dienstposten waren im vergangenen Jahr nicht besetzt, knapp 14.000 Unteroffiziere fehlten beispielsweise, außerdem 8.618 Mannschaften und 4.336 Offiziere. Hinzu kommen 50.000 Reservisten, die es auf dem Papier geben müßte, die aber in der Realität nicht da sind. Eine weitere negative Folge des Wegfalls der Wehrpflicht: Die Truppe ist dadurch gealtert. So stieg das Durchschnittsalter der Mannschaften und Unteroffiziere zwischen 2010 und 2022 um rund fünf Jahre.

„Die völlig unnötige und unreflektierte Aussetzung der Wehrpflicht war die schwerste Fehlentscheidung deutscher Verteidigungspolitik seit Gründung der Bundesrepublik“, ist der verteidigungspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Rüdiger Lucassen, überzeugt. „Alle Maßnahmen der Bundesregierung, mehr Bewerber für den Dienst zu gewinnen, sind in den letzten Jahren gescheitert.“ 

Leisteten kurz nach Aussetzung der Wehrpflicht noch 19.600 Freiwillige einen Wehrdienst (2011), schwankte ihre Anzahl in den vergangenen zehn Jahren zwischen 8.300 und – etwa im Jahr 2022 – 9.500. Wobei jedes Jahr rund 2.000 junge Freiwillige ihren Dienst vor dem Ende der regulären Dienstzeit abbrechen. Im Jahr der Wiedervereinigung hatte die Bundeswehr insgesamt über eine halbe Million Soldaten. 

Daß sich die Truppe verkleinern muß, hatte man bei den Verhandlungen über die deutsche Einheit festgelegt, zumal die Zeichen seinerzeit allgemein auf Abrüstung standen. Im Jahr 2015 dienten dann erstmals weniger als 180.000 Bewaffnete in der Bundeswehr. Im vergangenen Jahr bestand die Truppe aus insgesamt 183.100 Soldaten – das sind 400 Mann weniger als die Bundeswehr 30 Jahre zuvor allein Wehrpflichtige hatte.

Abgebaut wurde in der Tat viel: Truppenteile, Kasernen, nicht zuletzt die Kreiswehrersatzämter zur Erfassung der potentiell Wehrpflichtigen. Die nötige Infrastruktur wieder aufzubauen würde Jahre dauern und Milliarden kosten, so das Hauptargument der Gegner. „Die Argumente gegen die Wehrpflicht waren immer Scheinargumente“, meint dagegen der AfD-Abgeordnete Lucassen. „Ausbilder sind ja keine ‘verlorenen Dienstposten’, sondern Soldaten mit hohem Einsatzwert, die Rekruten für ihre Ausgaben qualifizieren und im Verteidigungsfall auch kämpfen können“, sagte er der JUNGEN FREIHEIT. „Zudem macht die Digitalisierung der Waffensysteme deren Bedienung immer leichter. Aus komplizierten Funkverfahren ist beispielsweise heute ein Touchscreen geworden.“ Indes seien fehlende Kasernen ein Problem, das die Bundesregierung mit den gesetzgeberischen Befugnissen des Grundgesetzes beheben müsse. „Alles in allem stelle ich fest, daß die Bundeswehr auch wegen ihres Personalmangels nicht zur Landesverteidigung befähigt ist.“ Lucassens Fazit: „Nach zwölf Jahren ist der Versuch der Freiwilligenarmee gescheitert. Deutschland braucht die Wehrpflicht.“

Das sehen interessanterweise Teile der CDU genauso. In Niedersachsen hatte die Partei bereits im vergangenen Jahr gefordert, stufenweise eine allgemeine Dienstpflicht mit der Möglichkeit einer Wehrpflicht einzuführen. Ähnlich argumentierte  auch der Reservistenverband: „Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht zu verteidigen, wenn es denn sein müßte, wenn wir keine Wehrpflicht haben“, sagte Verbandspräsident Patrick Sensburg. Und Marineinspekteur Jan Christian Kaack sieht darin keine Gespensterdiskussion. Er sei immer ein Anhänger der Wehrpflicht gewesen, meinte der Vizeadmiral. „Ich glaube, daß eine Nation, die in diesen Zeiten auch resilienter werden muß, ein besseres Verständnis hat, wenn wir eine Durchmischung mit den Soldaten haben“, so Kaack gegenüber der dpa. 

Vorbild für eine Wiedereinführung der formal nur ausgesetzten Wehrpflicht könnte Schweden sein. Dort hatte man 2017, sieben Jahre nach Aussetzung, umgesteuert, weil es zu wenige Freiwillige gegeben hatte. „Die Zwangsrekrutierung von Personal ist eine Ergänzung zum Freiwilligendienst und gilt gleichermaßen für Männer und Frauen“, fassen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags die Entwicklung in einer Studie zusammen. 

Seit 2018 gibt es dort nunmehr zwei Möglichkeiten, um in den Streitkräften zu dienen: entweder auf Antrag oder durch Einberufung. Alle Wehrpflichtigen erhalten einen Fragebogen, anschließend wird nach Kriterien der Tauglichkeit und Motivation ausgewählt, so daß faktisch niemand zum Dienst „gezwungen“ wird. Etwa vier Prozent der relevanten Altersgruppe werden rekrutiert. In dem skandinavischen Land waren mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht keine erhöhten jährlichen Verteidigungsausgaben verbunden.

Für die nächste Sitzungswoche hat die AfD-Fraktion im Bundestag einen Antrag mit dem Titel „Reaktivierung der Wehrpflicht“ angekündigt.   Deutschlands Sicherheit hänge von einsatzbereiten Streitkräften ab, bekräftigt Verteidigungs-Sprecher Lucassen. Dazu brauche die Bundeswehr eine breite Verankerung in der Gesellschaft: „Die Wehrpflicht ist dafür das richtige Instrument.“


 Abwehrbereit?


Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge gehen 42 Prozent der befragten Wahlberechtigten davon aus, daß der Wehrdienst wieder reaktiviert wird, 37 Prozent glauben dies nicht. Unterdessen wäre laut der Erhebung nur jeder zehnte Deutsche bereit, sein Land mit der Waffe zu verteidigen. Fünf Prozent würden sich freiwillig melden, weitere sechs Prozent erwarten, daß sie im Kriegsfall einberufen und für die Landesverteidigung eingesetzt würden. Fast jeder vierte Deutsche (24 Prozent) würde im Kriegsfall so schnell wie möglich das Land verlassen, wobei der Anteil unter den Jüngeren größer ist. Im Jahr 2022 sind insgesamt 951 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung eingegangen. Viele begründeten ihre Anträge damit, daß sie mit einer kriegerischen Auseinandersetzung nicht gerechnet hätten. Zum Vergleich: 2021 hatten nach früheren Angaben 209 Menschen von diesem Grundrecht Gebrauch gemacht. Unter den Aktiven der Bundeswehr waren es vergangenes Jahr insgesamt 235, davon stellten den größten Anteil (226) Soldaten auf Zeit. Hinzu kamen acht Berufssoldaten sowie ein Freiwillig Wehrdienstleistender. Umgekehrt haben 2022 insgesamt 487 Personen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) ihren „freiwilligen Verzicht auf die Anerkennung als Kriegsdienstverweigernder“ zu erklären. Davon die meisten (462) seit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine Ende Februar 2022 – und somit mehr als in den beiden Jahren davor. (vo)