© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/23 / 10. Februar 2023

Ausbruch aus dem Patriarchat
Kino: „Die Aussprache“ soll ein Film sein, ist aber eher ein Einakter mit zu viel Personal. Egal – solange die Botschaft schön „woke“ ist
Dietmar Mehrens

Es ist etwas geschehen. Etwas Grausiges. Etwas, das die Frauen einer Glaubensgemeinschaft zutiefst erschüttert hat. War es Satan? War es weibliche Einbildung? Als Werk einer solchen weist eine Einblendung zu Beginn diesen Film aus. Doch das ist ironisch gemeint. Zuallererst ist „Die Aussprache“ ein feministischer Aufschrei, der gerade nicht als bloße Fiktion abgetan werden will.

Was also ist geschehen in dieser archaisch anmutenden Siedlung irgendwo in den ländlichen Weiten der Vereinigten Staaten des Jahres 2010? So ganz genau erfährt der Zuschauer das nicht. Nur so viel wird klar: Einige Männer der Kommunität sind sexuell übergriffig und gewalttätig geworden. Einige Frauen haben sich dagegen zur Wehr gesetzt und sich damit eines Verstoßes gegen die eigene Ordnung schuldig gemacht.

Neofeministisches Pamphlet aus dem linksintellektuellen Elfenbeinturm

Jetzt – in der Nacht nach den dramatischen Vorfällen – findet eine Aussprache darüber statt, inwiefern diese Gegenwehr gerechtfertigt war – oder eben nicht. Die Frauen sammeln Argumente dafür und dagegen und erörtern das weitere Vorgehen: Sollen sie nichts tun, bleiben und kämpfen oder die Gemeinschaft verlassen? Während die Jüngeren, darunter die von einem Rohling geschwängerte Ona (Rooney Mara) und die von ihrem Mann verprügelte Mariche (Jessie Buckley), sich eher kämpferisch geben, verweisen die Älteren auf den Grundsatz der Gemeinschaft, im Sinne der Bergpredigt Friedensstifter zu sein, und stimmen demonstrativ den Choral „Näher, mein Gott, zu dir“ an.

„Die Aussprache“ ist eine klassische Parabel. Das Korsett, das die strengen Regeln einer extrem konservativ ausgelegten christlichen Glaubenslehre den Frauen anlegen, funktioniert zwar auch auf der Bildebene: als Konflikt zwischen Selbstbestimmung und Moral. Doch die didaktische schematische Anlage von Sarah Polleys Drehbuch läßt schnell tiefer blicken. Da wäre zum einen die demonstrative Abwesenheit von Männern. Von ihnen wird fast pausenlos gesprochen. Zu sehen aber sind sie so gut wie nie. Mit einer Ausnahme: Der von Ben Whishaw verkörperte August, der in der Kolonie als Lehrer tätig ist, protokolliert die Debatte und steht den Frauen auch sonst hilfreich zur Seite. Whishaw, bekannt geworden als Triebtäter Grenouille in Tom Tykwers Verfilmung von „Das Parfüm“ (2006), verkörpert mit typisch femininen Eigenschaften die Art Männlichkeit, die die alten Herrschaftsmuster transzendiert, das Patriarchat überwindet. August ist wenig stattlich, nah am Wasser gebaut und stets zurückhaltend. Er fühlt sich zu Ona hingezogen, würde sie aber niemals bedrängen.

Infolge der ideologischen Zusammenrottung auch in der Filmkunst begegnen einem gerade zuhauf Werke wie dieses. Frauenrechtsthemen werden von der Filmindustrie beackert, als schrieben wir das Jahr 1960 und stünden noch ganz am Anfang von Emanzipation und weiblicher Selbstbestimmung, als hätten sich Frauen nicht längst überall in der westlichen Welt wichtige Führungspositionen erobert. Gut hineingepaßt in die späten Sechziger hätte auch „Die Aussprache“ nach dem gleichnamigen Roman der preisgekrönten Autorin Miriam Toews, ein Buch, das Regisseurin Sarah Polley sofort hinriß. Es ist ein neuer Feminismus, der sich hier Bahn bricht, der Feminismus des Regenbogenzeitalters. Typisch für diesen Feminismus der Vielfalt ist beispielsweise die Fortschreibung des Kampfes für die Rechte sexueller Minderheiten: Homo ist „out“, trans ist „in“. Diese Weiterentwicklung spiegelt auch Polleys Film wider: Eine der Schwestern ist transsexuell.

Die Schlußszene ist in deutlicher Anlehnung auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten gezeichnet. Aus der Vogelperspektive sieht man die Wagen rollen – einer besseren (noch zu schaffenden) Zukunft entgegen.

Sarah Polleys neofeministisches Pamphlet auf Zelluloid ist ein Werk aus dem linksintellektuellen Elfenbeinturm für den linksintellektuellen Elfenbeinturm mit guten Karten auf von Regenbogen-Ideologen dominierten Filmfestivals und schlechten bei der breiten Masse. 


 Kinostart ist am 9. Februar 2023