© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/23 / 10. Februar 2023

Vorhut einer sich anbahnenden Ökotyrannei
Gibt es ein Recht auf zivilen Ungehorsam? Der Tübinger Moralphilosoph Otfried Höffe kritisiert die Klimakleber
Björn Schumacher

Straßenblockaden und Attacken auf Kunstwerke durch „Aktivisten der Letzten Generation“ beschäftigen auch die Moralphilosophie. Der in Tübingen lehrende Ethiker Otfried Höffe schlug in einem Gastbeitrag für die Neue Zürcher Zeitung („Der Klimaschutz erlaubt keine Barbarei“, 5. Dezember 2022) folgende Lösung vor: „Die Aktivitäten müssen zwei Bedingungen erfüllen: Elementares Recht ist einzuhalten, und die Protestaktionen müssen tatsächlich dem Klimaschutz dienen.“

Höffes Artikel fehlt die letzte Durchdringungstiefe. Was etwa ist „elementarer Rechtsgehorsam“? Der Autor hätte sich hier der Frage zuwenden müssen, ob Richter, sonstige Rechtsanwender oder einfache Bürger in einem demokratischen Rechts- oder einem totalitären Unrechtsstaat agieren. 

Widerstand gegen fundamentales staatliches Unrecht bis hin zum „Tyrannenmord“ prägte antike Debatten und darf heute als naturrechtlich beziehungsweise rechtsethisch legitim gelten. Das strafrechtliche Verbot von Mord, Totschlag und Körperverletzung tritt hier ausnahmsweise zurück. Claus Schenk Graf von Stauffenberg und die anderen Verschwörer des 20. Juli 1944 hatten das Recht auf ihrer Seite, auch wenn die Handlanger des NS-Staats das naturgemäß anders sahen.

Klima-Kleber und Kartoffelbrei-Werfer bekämpfen aber keine Barbarei. In einem weiten Wortsinn sind sie selber Tyrannen, nämlich die Vorhut einer sich anbahnenden Ökotyrannei. Höffe erinnert an den „im deutschen Sprachraum überaus wirkungsmächtigen ‘Hintergrundtheoretiker’ Hans Jonas“ (1903–1993), der in seiner Studie „Das Prinzip Verantwortung“ (1979) gefordert habe, die konstitutionelle Demokratie und andere Errungenschaften moderner Staatslehre einer Ökodiktatur zu opfern. 

„Ziviler Ungehorsam“ ist

ein diskursiver Ladenhüter

Solchen abstrusen Theorien widerspricht keinesfalls nur Moralphilosoph Höffe. Im demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat bleibt kein Raum für „zivilen Ungehorsam“. Im Gegensatz zur Diktatur bietet eine auf der Volkssouveränität gründende Demokratie genug Möglichkeiten, mittels Gewaltenteilung und spezifischer Institutionen und Verfahren ungerechte Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften aus dem Rechtssystem zu eliminieren. 

Wer dennoch ein Recht auf „zivilen Ungehorsam“ reklamiert, wärmt einen diskursiven Ladenhüter der 1980er Jahre auf. Damals erregte die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen mit atomaren Sprengköpfen das Land. Jürgen Habermas wetterte gegen die vermeintliche Absicht der CDU-geführten Bundesregierung, einen „verhärteten“ beziehungsweise „autoritären Legalismus“ an die Stelle von Legitimation zu setzen. (J. Habermas, Ziviler Ungehorsam − Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: Peter Glotz, Hrsg., Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983).

Diese Diskussion ist ausgestanden. Kaum ein Jurist bezweifelt, daß Aktivisten der „Letzten Generation“ gegen die Paragraphen 240 (Nötigung), 303 (Sachbeschädigung), 315 (Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr) oder 315 b (Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr) Strafgesetzbuch verstoßen. Werden ihre Blockaden ursächlich für den Tod oder die Verschlimmerung von Verletzungen eines Unfallopfers, kommen die Paragraphen 222 (Fahrlässige Tötung) oder 229 (Fahrlässige Körperverletzung) hinzu. Diese Taten sind mit aller rechtsstaatlich gebotenen Härte zu ahnden. 

Zustimmung verdient Otfried Höffes Feststellung, Klimaschutz sei kein exklusives Ziel der Politik, auch wenn sich seine Aufzählung weiterer „Menschheitsaufgaben“ am Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners  orientiert. Er fordert die „Überwindung von Hunger und Armut, die Aufhebung der Diskriminierung von Frauen und der religiösen, kulturellen oder politischen Unterdrückung von Minderheiten“. 

Problemsensibler argumentiert Höffe beim Thema „Bevölkerungsexplosion“. Sie ist die Mutter zahlreicher Krisen, die maßgebend an der Entstehung oder Verschärfung weltweiter Verwerfungen, nicht zuletzt auch an Klima- und Umweltveränderungen oder der sich zuspitzenden Migrationskrise mitwirkt.

Kurz und bündig verneint der Moralphilosoph die Frage, ob die Rechtsbrüche der „Letzten Generation“ direkt oder indirekt dem Klimaschutz dienen. Hierfür gibt es in der Tat keinen einzigen Hinweis. Nur Ideologen können sich einreden, Autofahrer durch aberwitzige Straßenblockaden zu Sympathisanten ihres Weltbilds zu erziehen.

Erneuerbare Energien als

teure Spielwiese grüner Utopie

Protestformen, die geltendes Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht nicht verletzen, stehen dagegen unter dem Schutz der Freiheitsgrundrechte aus Artikel 5 und 8 Grundgesetz (Meinungs- bzw. Versammlungsfreiheit). Wie aber sieht es mit ihrer ethischen Legitimation aus? Ist es moralisch gerechtfertigt oder sogar geboten, sich etwa bei „Fridays for Future“ für den Klimaschutz einzusetzen? Vom Standpunkt einer konsequentialistischen Ethik wäre das in Betracht zu ziehen, wenn solche Aktivitäten deutlich mehr Nutzen als Schaden stiften würden.

Die Beantwortung dieser Frage setzt eine ergebnisoffene Analyse sowohl der Klimaentwicklung als auch der aktuell propagierten Mittel und Wege zur Eindämmung einer − angeblich − drohenden Klimakatastrophe voraus. Höffe liefert keinen systematischen Lösungsansatz, verweist aber auf das krasse Mißverhältnis zwischen den CO2-Emissionen Deutschlands beziehungsweise der EU und dem bis zur industriellen Selbstaufgabe zelebrierten Klimaschutzkult. 

Zudem rügt der Moralphilosoph den Zementverbrauch für immer höhere Windkrafträder, der den CO2-Ausstoß spürbar antreibe. Er hätte auch die damit einhergehende umwelt- und klimaschädliche Bodenversiegelung, die massenhafte Tötung von Vögeln und Insekten, die inakzeptable Verspargelung ganzer Landstriche sowie die physikalische Tatsache herausstellen können, daß zumindest landgestützte Windräder alles andere als grundlastfähig sind.

Vor allem die erneuerbaren Energien werden zur teuren Spielwiese grüner Utopie. Das ist rückwärtsgewandte Klientelpolitik. Die Zukunft dürfte der Kernenergie durch bahnbrechende Verfahren zur Kernfusion gehören; radioaktive Abfälle werden dann nicht mehr entstehen. Wer ungeachtet des grünen Anti-Atom-Dogmatismus eine „Vorreiterrolle“ Deutschlands beim Klimaschutz fordert, mag sein schlechtes Klimasünder-Gewissen beruhigen. Die Prinzipien von Vernunft und Moral hat er sicher nicht auf seiner Seite.