© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/23 / 10. Februar 2023

Einmal Himmel und zurück
Österreich: Nach dem Höhenflug der ÖVP ist deren harte Landung schmerzlich
Robert Willacker

Bei Sebastian Kurz’ letztem Schritt zum Gipfel der Macht begleitete ihn Hermann Hesse. „Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen“, zitierte der ÖVP-Parteivorsitzende Reinhold Mitterlehner in seiner Rücktrittsrede am 10. Mai 2017 aus dem Gedicht „Stufen“. 

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Große Koalition aus sozialdemokratischer SPÖ und christlich-konservativer ÖVP bereits über acht Jahre gemeinsame Regierungsarbeit in den Knochen. Beide Koalitionsparteien dümpelten in Umfragen im 20-Prozent-Bereich und das Momentum lag auf seiten der rechtskonservativen FPÖ. Im gleichen Zeitraum erwarb sich der damals noch als Außenminister fungierende Sebastian Kurz durch seinen Konfrontationskurs gegenüber der SPÖ und der Mitwirkung an der zeitweisen Schließung der Balkanroute den Ruf als durchsetzungsstarke Führungspersönlichkeit. 

„Kurz wird Österreich länger regieren als Castro Kuba“

Mitterlehner trat schließlich entnervt zurück („Ich bin kein Platzhalter!“), und die ÖVP kürte an seiner Statt erwartungsgemäß den jungen Shootingstar Kurz zu ihrem designierten Bundesparteivorsitzenden, der sich mit umfassenden Vollmachten ausstatten ließ und sogar die Parteifarbe von Schwarz auf Türkis änderte. Es folgte der teuerste Nationalratswahlkampf in der Geschichte der Republik, an dessen Ende die Kurz-ÖVP ein Plus von 7,5 Prozentpunkten, Platz 1 sowie den Auftrag zur Regierungsbildung für sich verbuchen konnte. Kurz hatte es geschafft: er hatte die ÖVP nach einem personellen Komplettumbau in neuem Glanz präsentiert und dem damaligen FPÖ-Vorsitzenden Heinz-Christian Strache die schon sicher geglaubte Kanzlerschaft entrissen. 

Die im Anschluß an die Nationalratswahl 2017 ausverhandelte ÖVP-FPÖ-Regierung um Bundeskanzler Kurz fand jedoch ein abruptes Ende, als am 17. Mai 2019 die Ibiza-Affäre publik wurde. Es folgte das Platzen der Mitte-Rechts-Koalition und ein erneuter Nationalratswahlkampf, aus dem die ÖVP wieder als stärkste Kraft hervorging und nunmehr ein Regierungsübereinkommen mit den ebenfalls deutlich gestärkten Grünen schloß. 

„Kurz wird Österreich länger regieren als Castro Kuba“, orakelte der Philosoph Richard David Precht seinerzeit im Interview mit dem österreichischen Nachrichtensender Puls 24. Es sollte sich bei dieser Einschätzung rückblickend um einen kolossalen Irrtum handeln, denn das Ibiza-Video, das den bisherigen Vizekanzler Strache zu Fall und der Volkspartei bei der Nationalratswahl 2019 einen Schub auf 37 Prozent brachte, sollte jetzt auch zum Problem für Sebastian Kurz werden. 

Sowohl der Rechnungshof als auch die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft untersuchten die von Strache auf Ibiza geschilderten Umgehungskonstruktionen für Parteispenden durch parteinahe Vereine und stießen dabei immer häufiger auf Verdachtsmomente im politischen Umfeld von Sebastian Kurz. Im Zuge einer Hausdurchsuchung bei Thomas Schmid, dem einstigen Chef der Österreichischen Beteiligungs AG, wurden ein Handy und eine externe Festplatte sichergestellt, deren Inhalt in den folgenden Jahren die Schlagzeilen dominieren sollte. Anhand von mehr als 300.000 sichergestellten Whatsapp-Nachrichten konnten die Ermittlungsbehörden das Bild eines verschworenen ÖVP-Zirkels nachzeichnen, der ab 2016 den parteiinternen Umsturz penibel geplant hatte. 

„Wie Lance Armstrong, nur schlimmer“, urteilt der zurückgetretene Mitterlehner im Gespräch mit der Tiroler Tageszeitung. Naturgemäß anders sieht das Kurz-Anwalt Werner Suppan. Gegenüber der Tageszeitung Kurier gibt er an, „daß die Ermittlungen bisher nichts Vorwerfbares zutage gebracht haben“ und: „Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft wird […] nichts finden, weil sich niemand etwas zuschulden hat kommen lassen.“  

Unter dem Druck der Ermittlungen, bei denen ein gutes Dutzend hochrangiger ÖVP-Vertreter und deren Umfeld in den Fokus gerieten, stellte Vizekanzler Werner Kogler dem konservativen Hoffnungsträger Sebastian Kurz jedoch schlußendlich das Licht ins Fenster. Am 9. Oktober 2021 gab Kurz seinen Rücktritt als Bundeskanzler und im Dezember des gleichen Jahres das Ausscheiden aus dem Nationalrat bekannt. 

Rücktritt der Generalsekretärin wirft lange Schatten auf die ÖVP

Es folgten Ministerrochaden und -abgänge, so daß von der ursprünglichen Mannschaft rund um das einstmalige politische Wunderkind Kurz nur noch wenige aus dem engsten Kreis übrigblieben; der Großteil zog sich auf unterschiedliche Positionen in der Privatwirtschaft zurück und mied seitdem das Licht der Öffentlichkeit. Kurz selbst heuerte bei dem Tech-Investor und Trump-Unterstützer Peter Thiel an und nahm dort für dessen Investmentunternehmen Thiel Capital die etwas undurchsichtige Rolle als „Global Strategist“ ein. 

Die ÖVP ist unterdessen wieder dort angekommen, wo einst alles begann: ‚In Umfragen liegt sie derzeit mit rund 22 Prozent auf Platz drei und hadert mit sich um eindeutige Positionierungen. Bevölkerungsseitig lastet man ihr neben den Verdachtsmomenten der Korruption vor allem die Corona-Jahre und die damit einhergegangenen Restriktionen an. Auch überstieg im Jahr 2022 die Anzahl der Asylanträge die 100.000er-Grenze und stellte damit sogar das bisherige Rekordjahr 2015 in den Schatten. Symptomatisch für die Identitäskrise der Volkspartei war der Rückzug der erst 28jährigen Generalsekretärin Laura Sachslehner im September 2022. Nach ihrer Kritik an der durch die Bundesregierung geplanten Auszahlung eines „Klimabonus“ an Asylbewerber erklärte sie in ihrer Rücktritts-Pressekonferenz:. „Ich bin der Meinung, daß wir mit dieser Maßnahme den Weg verlassen, für den die Volkspartei steht. […| Meiner Meinung nach geben wir damit unsere Werte auf.“

Nach der Mitte Januar krachend verlorengegangenen Landtagswahl im für die Volkspartei so wichtigen Bundesland Niederösterreich steht die Partei nun vor dem nächsten Problem: 2024 findet wieder eine Nationalratswahl statt, und ein neuer Sebastian Kurz ist weit und breit nicht in Sicht.