© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/23 / 03. Februar 2023

Wenn der Kitt bröckelt
Identitätspolitik: Die britische Neue Linke und die Ursprünge eines umstrittenen Konzepts
Oliver Busch

Was die politische Kaste und die systemtreuen Medien erst nach einigen Tagen Bedenkzeit widerstrebend eingestehen mochten, daß die „Zurüstungen zum Bürgerkrieg“ (Hans Magnus Enzensberger), die in Berlin und anderen bundesdeutschen Großstädten zur Silvesternacht zu bestaunen waren, möglicherweise „Migrationsfolgen“ sein könnten, wirkt aus britischer Perspektive wie die Ouvertüre zur Gewaltgeschichte eines Einwanderungslandes, wie sie auf der Insel schon im Sommer 1958 begann. 

Damals traten im Londoner Stadtteil Notting Hill afro-karibische Emigranten und länger dort lebende Briten zum „Rassenkampf“ an. Eine solche direkte Konfrontation sollte sich in den folgenden Jahrzehnten allerdings nicht wiederholen. Wenn fortan in unschöner Regelmäßigkeit „Rassenunruhen“ in den „sozialen Brennpunkten“ von London, Manchester, Birmingham, Liverpool oder Nottingham ausbrachen, trafen Aufrührer und Gewalttäter allein auf die polizeiliche Ordnungsmacht. Ein vorläufiger Höhepunkt wurde dabei im August 2011 erreicht, als in Tottenham, einem mit arbeits- und zukunftslosen Migranten vollgestopften Londoner „Problemviertel“, ein schwarzer Drogendealer bei der Festnahme erschossen wurde. Das war der Auftakt zu Wochen im Ausnahmezustand, als Ausländerghettos vieler britischer Städte brannten, Plünderungsexzesse Einkaufsstraßen verwüsteten, ein „vielfältiger“ Migrantenmob Löschfahrzeuge und Krankenwagen attackierte.

Das Vereinigte Königreich war in den frühen 1950ern, vor Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Portugal, der erste westeuropäische Staat, der seine Schleusen weit öffnete, um Menschenmassen aus ehemaligen Kolonien aufzunehmen und das „soziale Experiment“ (Yascha Mounk) zu wagen, eine ethnisch relativ homogene gegen eine multiethnische Bevölkerung auszutauschen. Da das Sein das Bewußtsein bestimmt, entstand dort in den 1960ern und 1970ern an Universitäten, in Think Tanks, Verlagen und Pressehäusern jenes linke Netzwerk, das diese von den Tories wie von der Labour Party exekutierte „einladende Einwanderungspolitik“ (Annalena Baerbock) öffentlichkeitswirksam begleitete. 

Hier entfaltete sich an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik jener Diskurs um den diffusen Begriff „Identität“, der sich seitdem rasant  internationalisiert hat. „Identität“ ist mittlerweile nicht nur die zentrale analytische Kategorie der Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern auch die schärfste Waffe in den von „Minderheiten“ aller Art gegen die noch bestehenden Mehrheitsgesellschaften entfesselten Kulturkämpfen.

In einer Politik-, Sozial- und Ideengeschichte verbindenden Studie wendet sich die Mannheimer Historikerin Almuth Ebke dieser britischen Neuen Linken zu, um die Wurzeln des so „umstrittenen“ wie langfristig wirkungsmächtig gewordenen Identitätskonzepts aufzugraben (Historische Zeitschrift, Band 315-2022). Auf den ersten Blick verblüfft die Wahl ihres Forschungsgegenstands. Warum interessierten sich ausgerechnet linke, unorthodox marxistische Intellektuelle für Identität, präzise gesagt: für kollektive Identität? 

Widerstände als „kulturell basierten Rassismus“ denunziert

Weil der vom Establishment den Autochthonen oktroyierte Umbau Großbritanniens zur Einwanderungsgesellschaft ohne ideologische Ausstaffierung nicht gelungen wäre. Zu diesem Zweck erfolgte 1964 in Birmingham die Gründung des Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) . Das dann zunächst seine vornehmste Aufgabe darin sah, die massiven mentalen Widerstände der britischen Mehrheitsgesellschaft in „wissenschaftlichen Analysen“ als „kulturell basierten Rassismus“ zu denunzieren. Dieses Vorbild inspirierte in der Bundesrepublik, verstärkt seit dem großen Willkommensjahr 2015, die Finanzierung Dutzender politologischer Professuren, deren „wissenschaftliche“ Resultate bereits in ihrer Denomination für „Migration, Rassismus und Rechtsextremismus“ überraschungsfrei vorweggenommen sind.

Aber ähnlich plump behandelten die Linken des CCCS, das von 1966 bis 1979 von dem aus Jamaika eingewanderten Kulturtheoretiker Stuart Hall (1932–2014) geleitet wurde, Probleme der Integration von Menschen aus den Parallelgesellschaften britischer „ethnic communities“ noch nicht. Zum einen, weil das heute dominante Lager der Theoretiker und Aktivisten, die aufgrund angeblicher Erfahrungen von „Rassismus und Exklusion“ auf ihrer kulturell verstandenen „Rassenidentität“ („race“) beharrten und eine Identifikation mit der als „rassistisch“ erlebten Mehrheitsgesellschaft verweigerten, noch schwach war. Zum anderen, weil das Thema kollektive Identität in seiner Komplexität angemessen begriffen und weitaus kontroverser als gegenwärtig diskutiert wurde.

Auch hierzu verweist Ebke auf den spezifisch britischen historischen Kontext, aus dem sich das gestiegene sozialwissenschaftliche Interesse an psychosozialen Mechanismen und Prozessen erklärt, die ein Individuum dazu bringen, sich als Teil einer Gruppe zu verstehen, sich mit ihr eins, identisch zu fühlen. Denn parallel zu der Frage, wie Zusammenhalt in einer Einwanderungsgesellschaft funktionieren könnte, sahen sich Politiker wie Wissenschaftler mit der bröckelnden britischen Identität konfrontiert. Die Parteien des schottischen Nationalismus verbuchten seit Ende der 1960er große Wahlerfolge, walisische Autonomieforderungen erklangen lauter, in Nordirland eskalierte die Unabhängigkeitsbewegung zum Bürgerkrieg. Verschärft durch Ölkrise und wirtschaftliche Depression, stand das Vereinigte Königreich um 1980 für viele Auguren auch ohne die aus Übersee importierten Fliehkräfte vor dem Zerfall. 

Vor diesem Hintergrund skizziert Ebke den Aufschwung der weltweit Maßstäbe setzenden britischen Nationalismus-Forschung, die eng mit dem Namen des vom Stalinismus geprägten Historikers Eric Hobsbawm (1917–2012) und des liberalen Politikwissenschaftlers Benedict Anderson (1936–2015) und ihren Theorien zur „Erfindung der Nation“ verknüpft ist. Unter der Stimmführerschaft des Sozialphilosophen Jürgen Habermas zog man in der Berliner Regenbogenrepublik daraus den fatalen Kurzschluß, daß ein Einwanderungsland auf traditionelle ethnisch-kulturellen Bindekräfte des ohnehin nur „erfundenen“ Nationalstaats verzichten könne, da ein demokratisch-rechtsstaatliches Regelwerk das „vernünftige Einverständnis unter Fremden“ hinreichend garantiere. 

So naiv waren Hobsbawm und Anderson nicht. Ebensowenig der linke schottische Politologe und Nationalist Tom Nairn, der seine Gesinnungsgenossen 1977 mit der Feststellung provozierte, daß im Nationalgefühl wurzelnde Loyalitäten im Zweifelsfall stärker seien als jene der Klasse. Für Ebke ist das eine Ansicht, die der Falklandkrieg im Frühjahr 1982 prompt bestätigte: Das linke  Dogma, daß die Arbeitsklasse gegen „patriotische Exzesse“ immun sei, löste dieser Krieg einmal mehr in Luft auf. Daß sich Menschen, die sich nicht kennen, in einer „Art kameradschaftlichem Verbund von Gleichen“ dennoch einer Gemeinschaft zugehörig „fühlen“ (Anderson), die sich nicht beliebig „erfinden“ läßt, markiert für alle multikulturellen „Sozialexperimente“ die Grenze ihres Scheiterns.