© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/23 / 03. Februar 2023

Radikaler gegen Preußens Erbe als die SED-Führung
Denkmuster woker Jetztmenschen
(ob)

Kein Ereignis versinnbildlicht für den Zeithistoriker Martin Sabrow den Streit um „Potsdams Symbolbedeutung“ so sehr wie der am 21. März 1933 in der Garnisonkirche zelebrierte „Tag von Potsdam“, als der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg seinem nationalsozialistischen Reichskanzler Adolf Hitler die Hand reichte. Kein Gebäude stehe daher seit dem Mauerfall stärker im Zentrum der Kulturkämpfe um die Vergangenheit Potsdams als das Phantom eines Bauwerks, das seit 1968, als die Ruine der Garnisonkirche gesprengt wurde, allein in der Erinnerung existiert (Merkur, 12/2022). Der mit schöner Regelmäßigkeit seit 30 Jahren aufflammende Streit um den Wiederaufbau der Kirche könne aber so lange nicht enden, wie deren Gegner unfähig seien, Vergangenheit in ihrer Andersartigkeit zu akzeptieren. Denn nicht nur in den USA drohe das Streben nach sameness, der woke Wille, noch fernste Winkel der Geschichte den Wertnormen und Denkmustern der „Jetztmenschen“ (Jacob Burckhardt) anzugleichen, Neugier auf Differenz („strangeness“) zu ersticken. Würde der Maßstab eines solchen „Präsentismus“ allgemeingültig, ließe sich nicht nur der Wiederaufbau der Garnisonkirche als angeblich „problematischer Teil des Preußenerbes“ verhindern, sondern die gesamte Potsdamer Stadtsilhouette, ja jegliche Herrschaftsarchitektur der Vormoderne überhaupt stünde zur Disposition. So radikal geschichts- und kulturfeindlich habe zu Walter Ulbrichts Zeiten nicht einmal die SED-Führung gedacht, die sich lange nicht einig war, ob die Kirchenruine als historischer Schandfleck verschwinden oder als Menetekel erhalten bleiben sollte. 


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