© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/23 / 27. Januar 2023

Eroberer auf Drachenschiffen
Ausstellung: Die Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen widmen sich grundsolide den Normannen
Karlheinz Weißmann

Rollos große Flotte segelte den Fluß hinauf ins Landesinnere, und als er sah, wie fruchtbar das Land war, ergriff ihn der Wunsch, es in Besitz zu nehmen. Denn es ist ein Land mit Flüssen voller Fisch und Wäldern voll von wilden Tieren, fruchtbar und geeignet für Getreide und andere Saat, mit reichem Weideland, um Vieh zu füttern […] Aus diesem Grund gingen er und seine Männer an Land und begannen sich die Einwohner untertan zu machen.“

Diese Schilderung der skandinavischen Landnahme im Westen Frankreichs stammt aus dem 11. Jahrhundert. Sie erweckt einen so idyllischen Eindruck, daß sie kaum den Tatsachen entsprechen kann. Aber präzisere Informationen über den Vorgang haben wir nicht. Weder wissen die Historiker Genaues über den erwähnten Rollo, den ersten „Herzog“ der „Normandie“, noch gibt es irgendeinen belastbaren Hinweis auf den berühmten Vertrag von 911, durch den ihm der westfränkische König Karl III. das Gebiet übergeben haben soll.

Die große Ausstellung im Zeughaus der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen zum Thema „Die Normannen“ beschränkt sich nicht auf solche Dekonstruktion von Überlieferung. Deshalb wird die Gründung der Normandie auch als entscheidender Akt betrachtet, mit dem jene Nordmänner/Wikinger/Waräger/Normannen die historische Bühne betraten, die ihren Zeitgenossen auf dem Kontinent und im Mittelmeerraum oft als „Geißel Gottes“ und Barbaren erschienen und die doch ganz wesentlich zur politischen Strukturierung Europas beigetragen haben.

Alles begann mit einer Mischung aus Raub- und Handelsunternehmen vom heutigen Dänemark, Schweden und Norwegen aus. Der Erfolg dieser Wikingfahrten war vor allem überlegenen nautischen Fähigkeiten und beeindruckendem Wagemut zu verdanken. Die Migranten auf den Drachenschiffen kamen allerdings aus sozialen Verbänden, die kaum eine staatliche Struktur kannten, und sie hielten noch am Heidentum fest, als der Rest Europas längst christianisiert war. Beides erschwerte ihre „Integration“. Wenn es trotzdem nicht bei einem feindseligen Gegeneinander blieb, hatte das mit der Anziehungskraft höherer Kultur zu tun, aber auch damit, daß die Normannen – trotz schwacher Impulskontrolle – über erstaunliches Organisationstalent verfügten.

Wie sich das auswirkte, macht die Ausstellung auf eine grundsolide – man möchte sagen: wohltuend altmodische – Weise deutlich, indem sie die wesentlichen Stationen der Geschichte der Normannen nacherzählt. Sie führt von Rollos Nachfahren, die sich mit einiger Mühe als Herren der Normandie etablierten, über die Eroberung Englands durch Wilhelm den Bastard – bekannter als Wilhelm der Eroberer – zur Schaffung einer anglo-normannischen Monarchie beiderseits des Kanals. Aus der Normandie zog man aber auch nach Süden, gründete ein normannisches Königtum in Süditalien und auf Sizilien, das später an die Staufer überging, und dann eine Reihe von Kreuzfahrerstaaten in Outremer, dem „Übersee“ des Mittelalters.

Normannischer Einfluß in der ostslawischen Region 

Auf die Länge der Zeit hatten diese Reiche so wenig Bestand wie der Versuch, einen Streifen der nordafrikanischen Küste zu unterwerfen. Aber was noch immer beeindruckt, ist die Fähigkeit der normannischen Herrscher, sich die jeweiligen Umstände zunutze zu machen, ein erstaunliches Maß an administrativer Vernünftigkeit durchzusetzen, die sehr heterogenen Bevölkerungen – eher mit Geschick und List als mit Gewalt – zu kontrollieren, und sogar da für einen gewissen Ausgleich zu sorgen, wo das nach mittelalterlichen Maßstäben unmöglich war: zwischen Christen und Muslimen und Juden, und zwischen der westlichen – „katholischen“ – und der östlichen – „orthodoxen“ – Kirche.

Vielleicht ist die Spur, die die Normannen in der Welt der Orthodoxie hinterlassen haben, sogar die tiefste. Zu denken ist dabei weniger an die berühmte Waräger-Garde byzantinischer Kaiser, die in Mannheim selbstverständlich auch präsentiert wird, eher an den Einfluß, den sie auf den Prozeß des state building im ostslawischen Bereich nahmen. Immerhin bezeichnete das Wort „rus“ ursprünglich die nordischsprechende Führungsschicht, die sich zuerst an den großen Flüssen festsetzte. Von ihren Siedlungen aus schuf sie verhältnismäßig stabile politische Verbände, die die Indigenen bis dato nicht kannten. Wie bedeutsam das für den Fortgang der Ereignisse war, ist Gegenstand eines seit dem 18. Jahrhundert schwelenden Historikerstreits zwischen „Normannisten“ und „Antinormannisten“. Aber am maßgebenden normannischen Einfluß auf die russische und ukrainische Geschichte kann heute im Grunde kein Zweifel mehr sein.

Bleibt zu betonen, daß die „Überschichtung“ ein vorübergehendes Phänomen war. Die relativ deutliche ethnische Scheidung von Elite und Volk schwand schon im Hochmittelalter. Als interessantes Beispiel für diesen Prozeß verweist die Ausstellung in Mannheim auf die Fürstin Olga von Kiew. Ihr Name – eine Variante des germanischen „Helga“ – ist schon ein Indiz für ihre Herkunft aus einer Waräger-Familie. Sie wurde mit dem Fürsten Igor von Kiew verheiratet, der einige Zeit später im Kampf fiel. Woraufhin Olga selbst die Regentschaft antrat und blutige Rache an den Feinden ihres Mannes übte. Sie konnte ihre Macht festigen, und ihre Bedeutung soll so groß gewesen sein, daß der Kaiser von Byzanz um sie warb. Aber sein Antrag wurde zurückgewiesen. Ein Grund für Olgas „Nein“ war ihr Festhalten an den alten Göttern. Warum sie bald ihre Meinung änderte – nicht im Hinblick auf den Freier, aber im Hinblick auf den Glauben –, wissen wir nicht. Aber in ihren letzten Jahren trieb sie die Christianisierung der Rus tatkräftig voran. Nach ihrem Tod 969 wurde sie heiliggesprochen, und die Orthodoxie verehrt sie bis in die Gegenwart unter ihrem Taufnamen Helena.

Die Ausstellung „Die Normannen“ ist noch bis zum 26. Februar im Zeughaus der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr zu sehen. Der sehr empfehlenswerte Katalog (527 Seiten, gebunden, durchgängig farbig bebildert) ist im Verlag von Schnell + Steiner erschienen und kostet im Museum 34,95 Euro. 

 www.rem-mannheim.de