© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/18 / 07. Dezember 2018

Die Bedrohung wird behaglich
Unlösbare Rätsel: David Robert Mitchells im Kino anlaufender dritter Spielfilm „Under the Silver Lake“ handelt von Verschwörungstheorien
Sebastian Hennig

Mit ungewöhnlich hellen Farben und viel frischer Luft verblüffte 2015 der Horrorfilm „It Follows“ von David Robert Mitchell das Kinopublikum und die Filmjournalisten. Mit dem vierfachen Budget konnte der US-amerikanische Filmregisseur und Autor einen phantastischen Film folgen lassen, der genauer als eine filmische Phantasie bezeichnet wäre. Etikettiert wird „Under the Silver Lake“ als Neo-Noir.

Wieder hat Richard Vreeland, der sich Disasterpeace nennt, also Unheils-Frieden, die Musik gemacht. Die wird von einer bizarren Truppe mit dem aufreizenden Namen „Jesus and the Dracula-Brides“ gespielt. Neben den in das Geschehen eingebetteten Liedern wird der über zweistündige Film von einer nostalgischen Orchestermusik aus dem Hollywood der dreißiger Jahre untermalt. Der Entstehungsort künstlicher Welten wird ganz natürlich und beinahe schon dokumentarisch ins Bild gesetzt. Wo sich alle bereithalten, daß ihre Laufbahn wie von selbst vorangleitet, da ist auch schnell ausrutschen. Sams (Andrew Garfield) Ehrgeiz ist längst abgeirrt. Der Mittdreißiger gammelt in einer Wohnanlage mit Schwimmbecken. Mit der Miete befindet er sich ebenso im Rückstand wie mit den Raten für einen protzigen Wagen. Er läßt sich das nicht nahegehen und hockt die meiste Zeit rauchend auf dem Balkon, um mit dem Fernglas zu beobachten, wie eine Nachbarin, oben unbekleidet, ihre Papageien füttert. Wenn die Mutter anruft, wimmelt er sie damit ab, daß er arbeiten müsse, nur um rasch seine Observation fortsetzen zu können.

Natürlich wird er beim Zuschauen beobachtet. Nietzsches Wendung von dem Abgrund, der in einen zurückblicke, wenn zu lange in ihn geschaut werde, bestätigt sich hier in verändertem Gewand. Die Sphäre der bunten Hefte und simplen Liedchen, der Spiele, Symbole und Filme, mit denen Sam und seinesgleichen die Wirklichkeit verwechseln oder die sie für diese eingetauscht haben, saugt ihn letztlich in sich ein. 

Es wurde noch keine zutreffende Bezeichnung erfunden für die Gesamtheit der lähmenden Symptome, die gemeinhin unter dem irreführenden Begriff der Pop- oder Massenkultur zusammengefaßt werden. Mitchell hat diese in seinem Film sehr geschickt mit dem unwirklichen Lokalkolorit des wirklichen Los Angeles gemischt. Er schaukelt diesen Unsinn so lange an sich selbst hoch, bis es zum Überschlag des Künstlichen ins Natürliche kommt. Und die Naturalisierung der Fiktion läßt das gewöhnliche Leben wieder märchenhaft erscheinen.

Sam konstruiert eine umfassende Verschwörung

Sam flieht aus Bett und Wohnung von Sarah (Riley Keough) mit dem Versprechen, sich morgen wiederzusehen. Doch die Wohnung der Begehrten ist ausgeräumt und sie über Nacht weggezogen. Daraus konstruiert Sam eine umfassende Verschwörung, der er auf die Spur gelangen will. Mit schauriger Genugtuung nimmt er wahr, wie die Anhaltspunkte für ein unheimliches Geschehen unter der Oberfläche immer zahlreicher werden. Ein Eichhörnchen stürzt sich aus dem Baumwipfel vor seinen Füßen zu Tode. Mysteriöse Hundemorde häufen sich. Auf seinem Weg entdeckt er geheimnisvolle Zeichen, deren Inhalt sich als stumme Vagabunden-Markierungen erweisen. Einer lokalen Bildgeschichte entnimmt er weitere Rätsel und trifft mit dem Zeichner (Patrick Fischler) in dessen Wohnung zusammen. Der ist ein Besessener und wird später zum Opfer einer von ihm erfundenen Gestalt. 

Dekor und Geschehen gehen ineinander über. Das eigentliche magische Rätsel dieses Films besteht darin, daß er trotz oder gerade wegen des Mangels an durchsichtigen Handlungsverläufen nicht langweilt. Spitzfindigkeiten würden mehr abstumpfen als die anhaltende Ungewißheit. Ein amerikanischer Rezensent schrieb zu Recht: „Selbst die Mängel sprechen für die verführerische Daseinsberechtigung des Films.“

Das Geschehen läßt einen nicht los, ohne einen wirklich an sich zu fesseln. Wer es entschlüsseln wollte, der hätte sich ganz schnell nur tiefer verstrickt. Alles bleibt in der Schwebe, und das Gefühl der Bedrohung wird so behaglich, wie das Unheimliche in David Lynchs Filmen Unbehagen vermittelt. „Under the Silver Lake“ ist beheimatet im Unheimlichen. Die Straßen von Los Angeles, der Park um die Hollywood-Berge mit dem Observatorium, die Kanalisation und das Silver-Lake-Reservoir spenden als Handlungsorte ein echtes Raumgefühl. Wie hier Realismus mit Phantastik versetzt ist, das ähnelt Jacques Rivettes „Céline und Julie fahren Boot“ (1974), der das Kino als eine besondere Art der Erfahrung propagierte. Hier wird um den Zuschauer eine ähnliche spielerische Philosophie entfaltet, durch die Lenkung mit Filmschnitten und die Fesselung des Auges an die Kameraperspektive.

Es löst sich dadurch nichts auf. Alles bleibt in der Waage. Das Fluidum ist wichtiger als der Gegenstand. In der sogenannten Popkultur wirkt sich eben nicht das Böse aus, nur das Dumme und das Träge. Während viele Filme dieses Genres von besagtem Klingsor am Klavier erfunden wurden, beinhaltet „Under the Silver Lake“ eine leise Warnung vor sich selbst.





Weihnachten mit der Puppenkiste

Charles Dickens‘ Erzählung „A Christmas Carol“ von 1843 gehört zu den unsterblichen Weihnachtsklassikern. Jetzt hat die Augsburger Puppenkiste die Geschichte des hartherzigen Geizkragen Ebenezer Scrooge und dessen durch die „Geister der Weihnacht“ bewirkte  allmähliche Wandlung auf die Kinoleinwand gebracht. Der kindgerechte Film atme in Bühnenbild, Kostümen und Ausstattung sowie seinen Figuren den „Geist der behaglichen Nostalgie“, urteilte die Filmbewertungsstelle. (JF)