© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/18 / 07. Dezember 2018

Vorgeschichte revidieren
Der Gropius-Bau zeigt eine Archäologie-Ausstellung
Karlheinz Weißmann

Die Rede davon, daß die Geschichte „umgeschrieben“ werden müsse, ist geläufig. Vor allem dann, wenn zu einer solchen Korrektur gar kein Anlaß besteht. Aber es gibt auch andere Fälle. So wenn es um die Erkenntnisse geht, die die deutsche Archäologie in den beiden letzten Jahrzehnten gewonnen hat. Die  aufschlußreichsten betreffen in erster Linie die Vorgeschichte, und eine Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau liefert jetzt einem breiteren Publikum einen ersten Eindruck vom neuen Bild, das sich die Forschung von den frühen Entwicklungen auf deutschem Boden macht.

Optisch gehört der Schöninger Speer zu den weniger spektakulären Stücken. Aber diese bei einem kleinen niedersächsischen Dorf geborgene Jagdwaffe ist immerhin 300.000 Jahre alt und liefert uns Aufschluß darüber, daß homo erectus nicht nur in der Lage war, Geräte individuell auf den Nutzer abzustimmen, sondern auch in Gruppen koordiniert vorzugehen, sich Ziele zu setzen und überweltliche Wesen verehrte, von denen er Hilfe bei der Verwirklichung seiner Pläne erwartete. Daß Kultur jedenfalls kein Produkt neuerer Zeit ist, sondern ihre Entstehung sehr weit zurückreicht, ist auch den Überresten zu entnehmen, die in Höhlen der Schwäbischen Alb entdeckt wurden. So zählt eine kleine „Venus“-Figur zu den ältesten figurativen Darstellungen überhaupt; die mehr als 40.000 Jahre alte, aus einem Vogelknochen gefertigte Flöte spricht dafür, daß Musik – zur Unterhaltung oder in der Religion – seit je für den Menschen eine Rolle spielte.

Dennoch muß man sich die Existenzbedingungen bis zum Ende der Steinzeit primitiv und ausgesprochen hart vorstellen. Daran änderte auch der Übergang zur Seßhaftigkeit mit Ackerbau und Viehzucht wenig. Die Wagenräder aus dem Neolithikum, die man bei Olzreute gefunden hat, sind als technische Errungenschaft zwar eindrucksvoll, aber ihrer Nutzbarkeit waren sicher enge Grenzen gezogen.

Ein grundsätzlicher Wandel vollzog sich erst mit dem Beginn der Metallbearbeitung, und der Eindruck, den man heute von der zivilisatorischen Höhe der Bronzezeit hat, ist deutlich verschieden von älteren Annahmen. Dafür spielten spektakuläre Funde wie der der „Himmelsscheibe von Nebra“ eine Rolle, aber auch die sogenannten „Goldhüte“. So unterschiedlich diese Artefakte sind, sie hängen offenbar alle mit einem Sonnenkult zusammen, der sich nicht auf die Verehrung des Tagesgestirns beschränkte, sondern präzise astronomische Kenntnisse voraussetzte. Die könnten zu den Arkana mächtiger Herrscher gehört haben. Wenn einer der einflußreichsten deutschen Archäologen, Harald Meller, die Bedeutung der im heutigen Sachsen-Anhalt gemachten Funde mit dem kulturellen Niveau des damaligen Ägypten verknüpft, mag das überraschen, spricht aber nicht gegen die Plausibilität. Meller nimmt jedenfalls an, daß es in Mitteldeutschland einmal ein regionales Zentrum gab, vielleicht eine Art Königreich, dessen Organisationsgrad nicht unterschätzt werden sollte.

„Fortschritt“ war selten unblutig

Für eine Staatlichkeit, die deutlich früher anzusetzen ist, als bisher üblich, spricht auch eine Ausgrabung im Tal der Tollense in Mecklenburg-Vorpommern. Dort hat man bisher die Überreste von 133 Menschen gefunden, die offenbar um 1300 vor Christus in einer Schlacht ums Leben gekommen sind. Wir wissen zwar nicht, um welchen Konflikt es sich handelte und wie sich die Streitparteien nannten, aber mit einiger Sicherheit ist anzunehmen, daß hier um Macht, Land oder wertvolle Güter gekämpft wurde und daß es nicht um irgendeinen Dorfzank ging, sondern um das, was man als Krieg bezeichnet: der Zusammenprall von zwei oder mehr Armeen, die politische Gemeinschaften rekrutiert, ausgerüstet und unter einen Befehl gestellt haben.

Die in Berlin präsentierten Skelettreste der Schlacht an der Tollense zeigen, daß das, was wir „Fortschritt“ in der Geschichte nennen, selten eine unblutige Angelegenheit war. Das ist auch an vielen der übrigen Exponate abzulesen, gleich ob sie aus der Phase der römischen Besetzung, dem frühen und dem hohen Mittelalter stammen, oder ob es sich um „Entartete Kunst“ aus der NS-Zeit handelt, die eher durch einen Zufall wieder ans Tageslicht befördert wurde. Wenn sich das im Gropius-Bau nicht sofort erschließt, hat das vor allem mit der modischen Neigung der Ausstellungsmacher zu tun, die Chronologie zu verwerfen. Stattdessen kreierten sie vier Themenbereiche – „Mobilität“, „Austausch“, „Innovation“, „Konflikt“ –, in denen viele Stücke eher durch assoziative Verknüpfung als in Folge innerer Zusammengehörigkeit gemeinsam präsentiert werden. Ein unglücklicher Entschluß, der dazu führt, daß vieles von dem Gezeigten nicht so zur Geltung kommt, wie es wünschenswert wäre.

Die Ausstellung ist bis zum 6. Januar 2019 im Berliner Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, täglich außer dienstags von 10 bis 19 Uhr zu sehen. Tel.: 030 / 2 54 86-0. Der Katalog (Michael Imhof Verlag) kostet im Museum 29 Euro.

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