© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/18 / 07. Dezember 2018

Die Macht der Worte
Dissident und Patriot: Zum hundertsten Geburtstag des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn
Günter Zehm

Wohl am genauesten hat ihn einst sein langjähriger Kampfgefährte aus alten Sowjetzeiten, Roi Medwedew, charakterisiert. Alexander Solschenizyn, so formulierte er, sei eine Mischung aus William Shakespeare und Isaac Newton, also eine gelungene Symbiose aus Literatur und Mathematik. Hinzuzufügen wäre diesem Urteil allenfalls noch: Solschenizyn war sein Leben lang  sowohl ein großer Leidender als auch ein großer Organisator von erfolgreichem Widerstand gegen Diktatur und schlechte Politik, eine Jahrhundertfigur.

Nächste Woche, am 11. Dezember, gedenkt man in Rußland (und nicht nur dort) voller Dankbarkeit seines hundertsten Geburtstages. So ändern sich die Zeiten. Als ihm 1970 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, konnte er es nicht wagen, die Auszeichnung persönlich in Stockholm entgegenzunehmen; die in Moskau herrschenden Sowjets hätten ihn vielleicht ausreisen lassen, die Rückkehr in die Heimat wäre ihm aber mit Sicherheit verwehrt worden. So schickte Alexander Issajewitsch  – auf geheimen, verschlungenen Pfaden – eine Dankesrede, und darin stand der lapidare Satz: „Ein Wort der Wahrheit überwindet die ganze Welt.“

Darin war nicht die geringste Anmaßung, Solschenizyn sprach aus purer Erfahrung. Sein Buch „Archipel Gulag“, Ende 1973 im Westen erschienen, erschütterte buchstäblich den Erdkreis, veränderte globusweit und ein für allemal das intellektuelle Klima, wirkte mit Urgewalt auf das Sowjetregime ein. Und die Art und Weise, wie der Autor dieses Riesenwerk über das Lagersystem direkt unter den Augen des KGB geschrieben und es vor den Zugriffen der Häscher und vor der Vernichtung gerettet hatte, war (und ist nach wie vor) ein einzigartiges Lehrstück über die Macht des Wortes und seiner Urheber, wenn diese nur mutig und kaltblütig zu ihm stehen.

Schon das Sammeln und Erinnern des schier uferlosen dokumentarischen Materials  unter widrigsten Umständen erscheint heute wie ein Wunder. Denn keine Bibliothek, kein Archiv stand Solschenizyn zur Verfügung, alles war sekretiert, mußte – statt im Computer – im Kopf gespeichert werden oder auf Zetteln, die jederzeit einer Hausdurchsuchung zum Opfer fallen konnten und die deshalb in doppelter und dreifacher Ausfertigung zu erstellen und sofort zu diversifizieren, an verschiedenen Stellen zu verstecken waren.

Natürlich konnte ein einzelner das nicht allein bewältigen, Solschenizyn mußte ein – selbstverständlich illegales, ständig aufs höchste bedrohtes – Netzwerk aus Korrespondenten, Kurieren und Vervielfältigern schaffen, mußte die Loyalität und Standfestigkeit der Mitarbeiter bei zu erwartenden Verhören und Folterungen testen, unsichere Kantonisten und bloße Schwätzer abwehren. Ferner mußte die hermetische Abschottung gegenüber dem Ausland unterlaufen werden: Es galt, Manuskripte über die Grenze zu schmuggeln und sie bei verläßlichen Instanzen zu deponieren, es galt, den Mut (oder die Feigheit) westlicher Medienvertreter, die man zum Meinungstransfer benutzen wollte, genau einzuschätzen.

Erstaunlich, daß Solschenizyn daneben überhaupt zum Schreiben kam und daß ihm, beim Abfassen des „Archipel Gulag“, Texte von herrlicher Konsistenz gelangen, daß die Botschaft vom Leid der Gulag-Insassen und ihrer letztendlichen Siegesgewißheit mit welterschütternder Anschaulichkeit überkommen konnte. Als der Schriftsteller später im Westen war, unter schnödesten Umständen im Februar 1974 aus dem Vaterland verjagt, änderte sich das nicht. Auch hier gab es ein bewundernswertes Zusammenspiel von großem dichterischen Schaffen und genau ausgetüftelter Organisation, mit der ehernen Zielvorgabe, sich selbst mit höchster Effizienz in die Arbeit am Aufbau eines vom Kommunismus befreiten neu-alten Rußlands und einer freien russischen Literatur einzubringen.

Die Mathematik, die zweite entscheidende Komponente im Leben des Alexander Solschenizyn, übernahm darin gewissermaßen die Rolle des Lebensretters. Dem in Kislowodsk am nördlichen Kaukasus geborenen Bauernsohn blieb unter den damaligen Umständen gar nichts anderes übrig, als ein möglichst unpolitisches, pragmatisches Fach zu wählen, um überhaupt zum Studium zugelassen zu werden. So wählte er die Mathematik und absolvierte die Ausbildung mit Bravour.

Im Zweiten Weltkrieg war er Leutnant und Batteriechef mit dauerndem Fronteinsatz, er sah den strategischen Pfusch der Stalinschen Armeeführung in der ersten Phase des Krieges, er sah die sowjetischen Greuel beim Einmarsch in Ostpreußen während der Schlußphase, und er schrieb darüber an Freunde, ohne hinreichend an die „tausend Augen und Ohren“ (Brecht) der Partei zu denken. Das, so bekannte er später achselzuckend, sei der große Fehler seiner Jugend gewesen. Er brachte ihm acht Jahre verschärfte Lagerhaft ein, mit anschließender „ewiger Verbannung“ nach Kasachstan.

Im Lager mußte er jedoch nicht bis zum Tode in sibirischen Bergwerken oder beim Holzfällen in eisiger Polarkreiskälte schuften, sondern man sperrte ihn, weil er Mathematiker war, für die längste Zeit in ein sogenanntes  „Technikerkommando“ (Scharaschka), wo für die Rüstungsindustrie gearbeitet wurde. Solschenizyn beschreibt das Leben dort in seinem Roman „Der erste Kreis der Hölle“ (1968). 

Doch es war auch noch ein anderer im Spiel. Während seiner Zeit als Verbannter in Kasachstan erkrankte er an Krebs, und die Behörden befürworteten seine Einweisung in ein Spezialkrankenhaus; sie gingen offenbar angesichts der diagnostizierten Unheilbarkeit seines Leidens davon aus, daß er bald sterben würde und so alle sich damals schon anbahnenden „Unannehmlichkeiten“ mit dem Autor Solschenizyn auf „natürliche“ Weise erledigen würden. Doch es kam anders – Solschenizyn wurde geheilt, nicht zuletzt dank der Bemühungen einer ebenfalls verbannten wolgadeutschen Ärztin, der er in seinem Roman „Krebsstation“ ein tief berührendes Denkmal gesetzt hat.

Solschenizyn ließ sich im Denken nichts vorschreiben, und er respektierte den durch die Jahrhunderte befestigten Lebensstil der Völker und Nationen. Seinen zwanzigjährigen Aufenthalt im Ausland zwischen 1974 und 1994, zuerst in der Schweiz, ab 1977 auf einer Farm im US-Bundesstaat Vermont, hat er immer begriffen als ein von feindlichen Kräften auferlegtes Exil, das es so bald wie möglich zu beenden galt. Westliche Imperialisten und Vereinnahmungsspezialisten mußten lernen, daß hier einer redete und schrieb, der sich die Freiheit nahm, zu allen wichtigen Fragen eine eigene Meinung zu haben und diese auch präzise und wirkkräftig unter die Leute zu bringen.

Er glaubte an den christlichen Gott der Gnade und der Erlösung, liebte inniglich die machtvoll-geheimnisvollen Gesänge in den orthodoxen Kathedralen und war sehr beeindruckt von der „direkten Demokratie“ nach Schweizer Art. Er mißtraute allen mit vollmundigen Parolen abgefüllten Parteipolitikern jeglicher Couleur und dachte bis in seine letzten Tage über spontanere, besser mit dem Leben verbundene Demokratieformen nach.

Mit Sorge betrachtete er die Auflösung der Bindungen zwischen Rußland, den Russen außerhalb der russischen Grenzen und der mit Rußland früher verbundenen Länder, besonders der Ukraine. Er sah hier einen schädigenden Einfluß des Westens, der den Unterschied zwischen Rußland und der Sowjetunion nicht wahrnehmen will. „Dazu kamen die Versuche der Nato, Teile der zerfallenen UdSSR in ihre Sphäre zu ziehen“, sagte Solschenizyn im Juli 2007 in einem Spiegel-Gespräch, vor allem eben die Ukraine, „ein mit uns eng verwandtes Land, mit dem wir durch Millionen familiärer Beziehungen verbunden sind. Diese könnten durch eine militärische Bündnisgrenze im Nu zerschnitten werden.“

Schade, daß Solschenizyn seine mahnende Stimme an seinem hundertjährigen Jubiläum micht mehr erheben kann. Er kam übrigens sowohl mit Wladimir Putin als auch mit dem soeben verstorbenen US-Präsidenten George H. W. Bush gut aus; sie bewunderten ihn und hörten auf ihn. Die Erinnerung daran kann nicht schaden.