© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/18 / 23. November 2018

Panik vor der Europawahl
Brüssel und viele Medien warnen vor Desinformationen aus dem Ausland und durch EU-kritische Parteien
Ronald Berthold

Unter den etablierten Parteien Europas geht die Angst vor der Europawahl um. Dabei verbreiten sie die Behauptung, der Urnengang von 500 Millionen Europäern im Mai könnte aus dem Ausland manipuliert werden. Netzpolitik.org orakelt bereits: „Europa droht bei Wahlkämpfen im Internet der Kontrollverlust.“ Weitere Medien verbreiten die Panik, Rußland könnte die Abstimmung über die Zusammensetzung des europäischen Parlaments zugunsten der „Rechtspopulisten“ beeinflussen. Daß sich Manipulationsversuche gegen die AfD richten und aus Rußland eher linke Fake-Beiträge kommen, wird dabei verschwiegen.

Vor der Hessenwahl kursierten zum Beispiel Aufrufe auf Facebook, AfD-Wähler sollten den Wahlzettel unterschreiben bzw. darauf ihre Telefonnummer notieren, damit er nicht gefälscht werden könne. Doch so wäre er ungültig – das Ziel der Urheber. Bundeskanzlerin Angela Merkel erhob im Bundestag jedoch den Vorwurf an die Oppositionsführerin, diese würde versuchen, die EU-Wahl zu manipulieren. 

Linke Manipulation fällt unter den Tisch

Hektisch gründete die EU die „Abteilung für Aufklärung von Desinformation“, organisiert Kongresse und erhöht den Druck auf soziale Medien, „Fake News“ und Wahlmanipulationen zu löschen. Doch wie sehr etablierte Politiker ihren Wahlkampf mit zum Teil gegensätzlichen Aussagen an unterschiedliche Zielgruppen ausrichten, geht dabei oft unter. Ein Beispiel: Vor der Bundestagswahl warb der heutige Gesundheitsminister Jens Spahn bei Menschen, die mit der AfD liebäugelten, mit der Parole „sichere Außengrenzen“. Anderen Wählern präsentierte sich der CDU-Politiker auf einem Foto mit ausländischen Jugendlichen und dem Spruch „Deutschland ist großartig“. Das doppelte Spiel ist durch die konkrete Zielgruppenansprache möglich, die Facebook und Twitter Werbetreibenden ermöglichen. Dabei kann genau nach Alter, Geschlecht, Herkunft und Sozialisation unterschieden werden. Im Wahlkampf bietet das Politikern die Möglichkeit, jedem das zu erzählen, was er hören möchte – eine bigotte Art der Manipulation, die bei Donald Trump scharf kritisiert wurde.

EU-Kommissarin Vera Jourová drängt seit Monaten auf strengere Regeln für soziale Medien, hat dabei aber vor allem andere angebliche Desinformationen im Blick – nämlich die der „Rechten“. Sie sagte netzpolitik.org: „Wenn in nur zwei oder drei Staaten die Wahlen manipuliert werden, ist das ein Risiko für die ganze EU.“ 

Facebook hat Ende Oktober eine Datenbank für politische Werbeanzeigen gestartet. Dort kann verfolgt werden, wer wieviel Geld für Inserate ausgegeben und welche Nutzer – aufgeschlüsselt nach Herkunft, Geschlecht und Alter – sie gesehen haben. Allerdings ist sie zunächst auf die USA, Großbritannien und Brasilien begrenzt. Bereits Mitte Oktober einigten sich die EU-Staats- und Regierungschefs auf Geldstrafen für Parteien, wenn diese gezielt falsche Informationen im Netz verbreiten. Die EU-Kommission soll bis Ende des Jahres weitere konkrete Vorschläge liefern. Diese können den von den G7-Staaten geplanten „Rapid Response Mechanism“ ergänzen, der Desinformationsattacken erkennen und koordinierte Gegenmaßnahmen einleiten soll. Wie diese aussehen könnten, zeigte der Kurznachrichtendienst Twitter, der kurz vor den US-Halbzeitwahlen 10.000 vermeintliche Fake-Profile löschte.

In Brüssel hält man ein Eingreifen Rußlands 2019 für wahrscheinlich: Zahlreiche Europapolitiker warnen vor Putins Propaganda und gezielter Desinformation. Doch weitgehend unbekannt ist, daß russische Internetkanäle, hinter denen das Staatsfernsehen steht, häufig für linke Anliegen agitieren. Ihre Zentrale haben sie in Berlin – in der Nähe des Potsdamer Platzes. Dort sitzen Ruptly, Redfish, Maffick – Facebook-Accounts mit Millionen Fans. Alle drei Medien gehören dem russischen Staat.

Redfish drehte zum Beispiel ein Video, das einen angeblich brutalen Polizeieinsatz gegen einen ausländischen Fahrraddieb in Kreuzberg zeigt. Der Film erreichte Hunderttausende. Die Botschaft: Die Beamten verhalten sich unverhältnismäßig hart gegen Migranten. Das Verhalten des ebenfalls in dem Film zu sehenden Mobs, der die Polizisten mit Flaschen und Blumentöpfen bewarf, bezeichnete Redfish als „Tapferkeit der Öffentlichkeit“. Der Sender verschwieg, daß der Fahrraddieb die Polizisten zuvor heftig attackierte. T-Online recherchierte, daß Redfish eine hundertprozentige Tochter der Videoagentur Ruptly ist, die zu RT und dieses wiederum dem russischen Rundfunk gehört. Der Kanal glorifiziert auch die Proteste im Hambacher Forst.

Solche Art der Manipulation fällt bisher unter den Tisch. Eingeschossen haben sich Brüssel sowie ARD und ZDF auf EU-kritische Parteien. Daß deren möglicher Wahlerfolg andere Ursachen, zum Beispiel die Unzufriedenheit mit der Migrationspolitik, haben könnte, bleibt außen vor. Es scheint, als ob die Erklärung der etablierten Parteien für eine Niederlage im Mai bereits in der Schublade liegt: Desinformation durch die Opposition.