© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/18 / 16. November 2018

„Fettsuchtwelle stoppen“
Ernährung: Studien beklagen den Gesundheitszustand deutscher Kinder / Bundesregierung will endlich reagieren
Verena Rosenkranz

Die Stiftung Kindergesundheit schlägt Alarm und ruft Kinder und Eltern „dringend“ dazu auf, den Konsum von zuckerhaltigen Limos, Colas und Energydrinks einzuschränken. Nur so sei die „Fettsucht-Welle“ zu stoppen. Ein deutscher Teenager trinke durchschnittlich einen knappen halben Liter Cola am Tag. Auch seine Freunde im Alter zwischen elf und dreizehn Jahren genehmigten sich jeden Tag 0,45 Liter Cola, Limo oder ein anderes zuckerhaltiges Getränk. Durchschnittlich bedeute dies 1.260 Kalorien pro Woche. Würde jeder Jugendliche statt Cola einfach nur Wasser trinken, wäre er schon nach knapp drei Wochen ein Pfund leichter, so die Stiftung mit Sitz in München. 

Vor diesem Hintergrund verweist der Kinderarzt Berthold Koletzko, Ernährungsexperte der Universitäts-Kinderklinik München und Vorsitzender der Stiftung, darauf, daß ein regelmäßiger Konsum zuckerhaltiger Getränke für etwa ein Fünftel des Risikos krankhafter Fettleibigkeit (Adipositas) im Kindes- und Jugendalter verantwortlich sei. Rund 20 Prozent der Gewichtszunahmen der Bevölkerung gingen allein auf das Konto zuckerhaltiger Getränke, so Koletzko. 

Auch die im September 2018 veröffentlichten Zahlen der bundesweiten Gesundheitsstudie KiGGS (Langzeitstudie des Robert Koch-Instituts zur gesundheitlichen Lage der Kinder und Jugendlichen in Deutschland) zeigens keine Wende: Demnach leide fast jedes sechste Kind zwischen drei und 17 Jahren (15,3 Prozent der Mädchen und 15,6 Prozent der Jungen) unter Übergewicht. 5,9 Prozent (5,5 Prozent der Mädchen und 6,3 Prozent der Jungen) seien bereits krankhaft fettleibig. „Die Hoffnung vieler Eltern, daß sich das Problem mit dem Babyspeck im Laufe der Pubertät auswächst und daß auch aus einem pummeligen Backfisch später eine gertenschlanke junge Frau wird, ist leider trügerisch“, betont Koletzko.  

Die Rechnung dafür präsentiert die Gesundheitsökonomin Diana Sonntag. Die ökonomischen Mehrkosten des lebenslangen Übergewichtes lägen bei 8.000 Euro für Jungen und bei 9.000 Euro für Mädchen. „Wenn alle heute übergewichtigen Kinder lebenslang übergewichtig bleiben, ergeben sich 1,8 Billionen Euro Mehrkosten für den Staat“, so die Leiterin des Querschnittsbereichs „Gesundheitsökonomie“ der Universität Heidelberg. 

Gemeinsame Essen zu Hause würde schon helfen 

Auch der Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit, der Daten von fast 600.000 Kindern und  430.000 Eltern auswertet, legt die Finger auf die Wunde. Er zeigt vor allem klare Zusammenhänge zwischen dem Bildungsstatus der Eltern und dem Gesundheitszustand ihrer Kinder. „Wenn das Elternhaus krank macht, hängt die Diagnose der Kinder oft mit dem Lebensstil von Mutter oder Vater zusammen“, sagt DAK-Gesundheit-Vorstandschef Andreas Storm. „Die gesundheitliche Ungleichheit zwischen den Familien ist größer als gedacht. Es gibt nachweislich erhöhte Risiken für benachteiligte Kinder.“

Die Unterschiede je nach Bildungsstatus der Eltern werden zum Beispiel bei Adipositas deutlich, so der DAK-Report.  Kinder von Eltern ohne Ausbildungsabschluß seien im Alter zwischen fünf und neun Jahren bis zu 2,5mal häufiger von Fettleibigkeit betroffen als Kinder von Akademikereltern. So hätten von 1.000 Kindern bildungsarmer Eltern 52 Kinder ein krankhaftes Übergewicht –- bei Akademikerkindern seien es nur 15 Jungen und Mädchen von 1.000. Bei Zahnkaries gebe es in bildungsarmen Familien 2,8mal so viele Fälle wie beim Nachwuchs von Akademikern. 

Die DAK-Studie zeigt ferner den Einfluß des sozioökonomischen Familien-Hintergrundes auf die Art der Gesundheitsversorgung. Kinder bildungsarmer Eltern haben demnach bis zu 68 Prozent mehr Krankenhausaufenthalte und bekommen bis zu 43 Prozent mehr Arzneimittel verschrieben als Kinder von Eltern mit hohem Bildungsabschluß. Im direkten Vergleich, so die DAK, haben die Bildungseinflüsse der Familie deutlich größere Auswirkungen auf die Kindergesundheit als zum Beispiel Einkommensunterschiede.

Vor allem die Ergebnisse des DAK-Präventionsradars haben es in sich. Beispiel: die Konsumhäufigkeit bei einzelnen Nahrungsgruppen. Hier liegt der Anteil an Befragten, die mehrmals pro Woche Fastfood konsumieren, bei 24 Prozent, für Softdrinks lag die Quote bei 39 Prozent. 

Der Anteil der Befragten mit Übergewicht stand in deutlichem Zusammenhang zu den Frühstücksgewohnheiten. In der Gruppe der Schüler, die nie zu Hause frühstücken, lag der Anteil an Übergewichtigen bei 16 Prozent, verglichen mit 10 Prozent unter denen, die angaben, jeden Tag vor der Schule zu frühstücken. Ein ähnlich deutlicher Zusammenhang ließ sich bei der Häufigkeit gemeinsamer Familienmahlzeiten finden. DAK-Resultat: Wer häufiger an gemeinsamen Mahlzeiten zu Hause teilnehme, habe seltener über Fastfood-Konsum berichtet.

Ende des Jahres soll es endlich Ergebnisse geben 

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) begrüßte den Report der DAK-Gesundheit. „Wir erleben die unselige Allianz zwischen Bildungsarmut und Krankheitslast täglich in unseren Praxen“, betonte Präsident Thomas Fischbach. 

„Angesichts der stagnierend hohen Zahlen an Adipositaserkrankungen schon der Jüngsten“ erhoben die drei medizinischen Verbände BVKJ, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) sowie die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) Forderungen an die Politik, endlich effiziente Maßnahmen zur Risikoreduktion zu beschließen.

„Die in Deutschland bisher favorisierte Strategie der Stärkung von Familien mit gut gemachten Broschüren und vielfältigen Informationsangeboten hat häufig die ohnehin interessierten Familien aus der Mittelschicht erreicht“, kritisierte DGKJ-Präsidentin Ingeborg Krägeloh-Mann. Susanna Wiegand von der Deutschen Adipositas-Gesellschaft sekundierte: „Auch in Deutschland muß die Abgabe von zuckerhaltigen Getränken in Kita und Schule strikt unterbunden werden, so wie es zum Beispiel in Belgien und Frankreich seit langem selbstverständlich“ sei. Auch eine Besteuerung zuckerhaltiger Getränke, wie sie in Großbritannien schon existiere, könne die gesündere Getränkeauswahl erleichtern, erklärten die drei Verbände und entschieden, ihre Mitgliedschaft in der vor gut einem Jahrzehnt gegründeten Plattform Ernährung und Bewegung (peb) – einem Bündnis mit cirka 100 Mitgliedern aus öffentlicher Hand, Wissenschaft, Wirtschaft, Sport, Gesundheitswesen und Zivilgesellschaft – Mitte September zu beenden. 

„Als Gründungsmitglied hatten wir beim Start der peb große Hoffnungen, daß eine gemeinsame Plattform aller Akteure der Zivilgesellschaft eine gemeinsame und offene Diskussion auch über kontroverse Fragen sowie über aktive Beiträge aller Mitglieder zur Senkung des Übergewichts bei Kindern ermöglicht. Beide Ziele wurden leider nicht erreicht.“ Vor allem komme die überwiegende Mehrzahl der peb-Mitglieder aus der Lebensmittelwirtschaft und blockiere die dringend notwendige Diskussion über zielführende Maßnahmen zum Schutz der Kindern vor zuviel ungesunden Lebensmitteln“, kritisierte Krägeloh-Mann. 

Peb-Vorstandsvorsitzende Ulrike Ungerer-Röhrich konterte: „Die Lebensmittelwirtschaft macht etwa ein Viertel der peb-Mitglieder aus und hat wie alle anderen Gruppen eine Stimme. Alle Mitglieder und Mitgliedergruppen haben bei peb die gleichen Einflußmöglichkeiten.“ Zudem, so die Professorin für Sportwissenschaft an der Universität Bayreuth, seien Ernährungsthemen gerade in den zurückliegenden Monaten im Rahmen des peb-Forums immer wieder kontrovers diskutiert worden.“

Auch die Bundesregierung sieht sich auf gutem Weg: „Die Reduktion von Zucker, Fetten und Salz ist ernährungsmedizinisch dringend geboten, technologisch machbar und wirtschaftlich vertretbar. Daher fokussiert die Reduktions- und Innovationsstrategie auf eine Reduzierung der Energiezufuhr durch eine Reduktion von Zucker und Fetten sowie auf die Senkung hoher Salzgehalte in Fertigprodukten“, erklärte Bundesernährungsministerin Julia Klöckner. 

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft stehe hierzu im Gespräch mit Verbraucher- und Wirtschaftsverbänden, dem Lebensmittelhandwerk, den Krankenkassen und der  Wissenschaft. Klöckner freute sich vor allem darüber, daß sich Ende September alle Beteiligten eines Runden Tisches zugesichert haben, „gemeinsam konstruktiv an der Erarbeitung des Konzeptes für die Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie mitzuwirken“. Für die Konzeption der Reduktionsstrategie seien acht Arbeitspakete mit unterschiedlichen Schwerpunkten geschnürt, darunter speziell an Kinder gerichtete 

Lebensmittel oder die Zuckerreduktion in zuckergesüßten Erfrischungsgetränken. Ende des Jahres soll dann ein gemeinsames Konzept vorgestellt werden, so die CDU-Politikerin. 

 www.kindergesundheit.de

 www.kiggs-studie.de

 www.dak.de

 www.pebonline.de