© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/18 / 02. November 2018

Knapp daneben
Lärm ist Leben
Karl Heinzen

Musizieren schafft Lebensfreude.“ Wer Nachbarn ausgesetzt ist, die meinen, sich an irgendwelchen Instrumenten austoben zu dürfen, kann über diesen Sinnspruch nur lachen. Um eine gerichtliche Bestätigung seines Rechts auf ein von Hausmusik ungestörtes Leben bemüht sich seit längerem ein bayerisches Ehepaar, das es besonders hart getroffen hat, weil im Reihenhaus nebenan ein Berufstrompeter wohnt, der daheim nicht nur übt, sondern zudem auch noch dilettierende Anfänger an seiner blechernen Lärmschleuder unterrichtet. So verständnisvoll sich das Landgericht Augsburg zeigte und die Zeitspannen, in denen der Nachbar proben darf, streng reglementierte, so lasch entschied nun in der nächsten Instanz der Bundesgerichtshof: Musik gehöre zum „sozial üblichen Verhalten und zur grundgesetzlich geschützten Entfaltung der Persönlichkeit“. Zwei bis drei Stunden Trompetenlärm an Werktagen und ein bis zwei Stunden an Sonn- und Feiertagen seien durchaus hinzunehmen. Anhand dieser Vorgaben haben sich die Augsburger Richter des Falls erneut anzunehmen.

Die Menschen wollen in Ruhe alt werden, bevor nach ihnen, aber bitte erst dann, die Sintflut kommt.

Es mag Erstaunen auslösen, warum sich eine über Überlastung klagende Justiz überhaupt mit Nachbarschaftsquerelen befaßt. Die Steuergelder sind hier aber gut investiert. In absehbarer Zeit werden die Alteinwohner ihren Rechtsstaat an eine Nachfolgepopulation abtreten. Bis dahin gilt es, ihn noch zu vollenden, damit die Nachwelt eine Vorstellung davon gewinnen kann, welches Rechtsempfinden uns auszeichnete. Nicht alles, was uns wichtig war, wird überdauern. Das können wir auch nicht verlangen. Unser heutiges Recht ist dadurch geprägt, daß die Menschen in Ruhe und unbelastet von Problemen, die sowieso nicht zu lösen sind, alt werden können, bevor dann nach ihnen, aber auch bitte erst nach ihnen, die Sintflut kommt. Die Bevölkerung, die sie ablöst, wird im Durchschnitt jünger und belastbarer sein und daher auch wissen, daß Lärm Leben und Stille Tod bedeutet. Vielleicht wird keiner mehr Trompete spielen können. Es wird aber auch niemand einen Nervenzusammenbruch erleiden und vor Gericht ziehen, wenn es doch jemand täte.