© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/18 / 02. November 2018

Wertstolz als aller Laster Anfang
Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich übt Kritik an der neuen Bekenntniskultur
Felix Dirsch

Wertedebatten begleiten die Geschichte der Bundesrepublik: Wichtige Stationen sind das Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts in den späten 1950er Jahren, die Grundwertekontroversen etwa zwei Jahrzehnte später, aber auch die Auseinandersetzungen über die EU als „Wertegemeinschaft“. Zahlreich sind auch die Gegner der übersteigerten Bedeutung derartiger subjektiven Präferenzen: Namhafte Gelehrte wie Max Weber, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Ernst-Wolfgang Böckenförde und Eberhard Straub sind zu nennen. Sie verweisen auf das tyrannische Potential, das in dem Bestreben liegt, die als geistig hochstehend empfundenen eigenen Dispositionen praktisch umzusetzen.

Daß Wolfgang Ullrich, der seinen Lehrstuhl am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe im besten Professorenalter aufgegeben hat, dieses im Grunde alte Thema nochmals zum Gegenstand einer Abhandlung macht, hängt mit der gesteigerten Aktualität in den letzten Jahren zusammen. Die kurzzeitige hypermoralische Euphorie im Zuge der Willkommenskultur ist vom allgemeinen Wertstolz nicht zu trennen, der oftmals seinen Hochmut nicht verbergen kann. Die soziale Herkunft der „Refugees welcome“-Fraktion bleibt nicht unbemerkt: Ihre Protagonisten stammen nicht selten aus privilegierten Verhältnissen. Studenten sind überproportional vertreten.

Wer Werte postuliert, darf sich gut fühlen

Ullrich steht der Werteinflation nicht zufällig skeptisch gegenüber. Er sieht Meisterwerte im Überfluß vorhanden, anders als Meisterwerke. Dieser Trend, zur Weltverbesserung so viel wie möglich beizutragen, ist ebenfalls kein neues Phänomen mehr. Seit den 1960er Jahren, als die materielle Basis für die meisten Bürger mehr oder weniger gesichert war, verschaffen sich viele ein gutes Gewissen, indem sie zur artgerechten Tierhaltung, zum fairen Handel, zur fleischfreien Ernährung, zur autofreien Fortbewegung, zu Spenden für Dritte-Welt-Läden und zu vielem mehr aufrufen. Solche Ansichten haben den lebensweltlichen Kult um die Werte maßgeblich begründet. Wer Werte postuliert und verwirklicht, darf sich gut fühlen und tut dies in der Regel auch. 

Nun läßt sich ein solches Engagement leicht in Frage stellen. Hinter entsprechenden Aktionen steckt öfter ein gehöriges Maß Heuchelei. Die Bahnhofsklatscher machten sich 2015 kaum Gedanken darüber, wie die Versorgung der Neuankömmlinge dauerhaft gesichert werden kann. Ein wenig Spendengeld hält nicht lange vor. Hier zeigt sich der nach Max Weber gesinnungsethische Idealtypus in Reinkultur. Die Folgen des eigenen Tuns werden denkbar vernachlässigt. Wichtig ist dagegen, daß die eigene Überzeugung stimmt und deutlich herausgestellt wird. Die Zeche zahlen die anderen.

Nun sind Wertekonzeptionen grundsätzlich durch eine gewisse Ambivalenz gekennzeichnet. Ullrich arbeitet sie mustergültig heraus. Auf der konservativen Rechten sind Werte oft beliebt, weil sie die Aura des Althergebrachten, Klassischen umgibt. Was könnte einerseits exzellenter sein als das Gute, Wahre und Schöne, das besonders in Sonntagsreden bemüht wird und deren Verfassungsrang bis in die Gegenwart unumstritten ist? Andererseits ist der relativistische Charakter der Werte offenkundig, der schon im 19. Jahrhundert von Nietzsche bemerkt wurde. Er verwies auf den Nihilismus als obersten Wert, wenn die Transzendenz verschwunden sei.

Diese Zweideutigkeit ist auch zu erkennen, wenn man auf politische Instrumentalisierungsversuche blickt. Identitäre bemühen sich, die eigene Ethnie durch Rekurs auf gemeinschaftsstiftende Werte zu stärken. Da wollen auch Linke nicht abseits stehen: „Artivisten“ und Moralaristokraten wie Philipp Ruch, Gründer des „Zentrums für politische Schönheit“, bekommen sogar von rechten Antimodernisten Zustimmung, wenn sie als eine Folge der Dominanz moderner Naturwissenschaften bemängeln, daß der Mensch immer bedeutungsloser und zufälliger werde. 

Damit ist der Vorrat an Konsensfähigem aber erschöpft. Selbst im eigenen Lager kommt das provokante Auftreten einiger Repräsentanten dieser Einrichtung, etwa vor dem Wohnhaus des AfD-Politikers Björn Höcke, meist nicht an. Gelegentliche Aufrufe zur Tötung rechter Politiker sind als Extrembotschaft noch weniger imstande, das ramponierte Image zu heben.

Man darf Ullrich für seine ausgewogene Darstellung dankbar sein. Plausibel argumentiert er, inwiefern der gesellschaftliche Friede durch die Bekenntniskultur gefährdet ist. Seine Hinweise gehen in toto doch in Richtung jener, die die „Tyrannei der Werte“ beklagen, obwohl ihm Linke und Liberale von der Gesinnung her näherstehen dürften.

Wolfgang Ullrich: Wahre Meisterwerke. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017, gebunden, 173 Seiten, 18 Euro