© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/18 / 02. November 2018

Zeitschriftenkritik: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Wissenschaftliche Abwege
Dirk Glaser

Die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VjZ), das 1953 vom Stapel gelassene Flaggschiff der bundesdeutschen Zeithistoriker, transportiert immer häufiger Fracht, die auf den Hauptumschlagplätzen der Gedächtnispolitik schwer absetzbar ist. Seit etwa 2010 zunehmend, finden sich in den Heften Beiträge zu randständigen Themen, die in regionalhistorischen oder anderen Nischen-Periodika besser aufgehoben wären. Zum Beispiel „Die Bayerische Vereinsbank zwischen Resistenz und Gleichschaltung“ (1/2014), „Grenzgewässer als deutsch-deutsches Umweltproblem“ (1/2014) oder „Die Umbenennung der Berliner Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße“ (3/2018).

Auch das jüngste Heft (4/2018) langweilt wieder mit solchen Abseitigkeiten. Geradezu ins Esoterische entführt der Aufsatz über „Die SPD und El Salvador 1979 bis 1985“. Der Verfasser Bernd Rother schöpft dabei aus dem vollen, denn als stellvertretender Geschäftsführer der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung wohnt er praktisch im SPD-Parteiarchiv. Da mußte sich die in den USA lehrende, monothematisch auf Holocaust-Forschung festgelegte Susanna Schrafstetter für Recherchen zu ihrer Mikrostudie „Münchner Juden in Italien 1933 bis 1945“ zwar mehr Mühe geben. Doch ungeachtet vieler bedrückender Einzelschicksale, die sie vergegenwärtigt, trägt die Untersuchung zu ihrem Hauptarbeitsfeld kaum Neues bei und hätte in einem Sammelband zur Münchner Stadt- oder bayerischen Landesgeschichte aufgeschlossenere Leser gefunden. 

Auf ganz andere, wenn auch für die vom Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) herausgegebene Zeitschrift nicht unübliche Weise führt der Beitrag von Margit Reiter auf wissenschaftliche Abwege. Sie widmet sich dem ehemaligen NS-Landesbauernführer Anton Reinthaller und den Anfängen der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) in den 1950er Jahren. Reiter ist Dozentin am Wiener Institut für Zeitgeschichte, wo man, wie beim deutschen Pendant, Geschichte gern volkspädagogisch aufbereitet. Wobei die Münchner unter ihrem Direktor Andreas Wirsching, einem der Erstunterzeichner der „Resolution von Münster“ (JF 43/18), sich mehr um pseudohistorische Legimitationsbeschaffung für die auf „Europa und Einwanderung“ fixierte Berliner Katastrophenpolitik kümmern, während die Wiener Kollegen hemdsärmelig im Getümmel des österreichischen „Kampfes gegen Rechts“ operieren. Mit Wissenschaft hat das nichts, mit politischer Publizistik viel zu tun, wie Reiters Bohrungen nach den „braunen Wurzeln“ der FPÖ einmal mehr bestätigen. 

So erfüllt unter vier Beiträgen dieses Heftes nur einer die Anforderung, einen thematisch relevanten – in dieser Zeitung noch gesondert zu behandelnden – Beitrag zur Zeitgeschichte geboten zu haben:  Nicolai Hannigs Studie über den Pädagogen Georg Picht, der mit seiner Warnung vor der „Bildungskatastrophe“ (1963) das Tor zur „Massenuniversität“ aufstieß.

Kontakt: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Verlag Walter de Gruyter, Genthiner Straße 13, 10785 Berlin. Ein Jahresabonnement für vier Hefte kostet 58,80 Euro

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