© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/18 / 19. Oktober 2018

Auf dem Altar der Politischen Korrektheit geopfert
Ein Bundespräsident gegen Multikulti und für die Nation: Vor 25 Jahren wurde gegen den CDU-Kandidaten Steffen Heitmann eine Kampagne losgetreten
Karlheinz Weißmann

Läßt man die Reihe der letzten Bundespräsidenten Revue passieren, kommt man zu der deprimierenden Einsicht, daß es offenbar sehr schwer ist, geeignete Kandidaten für das höchste Amt der Republik zu finden. Im Grunde gab es nach Karl Carstens keinen weiteren, von dem man sagen kann, daß er tatsächlich die Nation als Ganzes repräsentiert hätte. Dieses Urteil über Carstens steht allerdings im Widerspruch zur Einschätzung der tonangebenden Kreise. Schon während seiner Amtszeit von 1979 bis 1984 begegnete man ihm mit Hohn und kaum verhohlenem Haß, und wenn nicht die Noblesse seines Auftretens gegen ihn gewendet wurde, dann seine Volkstümlichkeit.

Was die Heftigkeit der Affekte angeht, die Carstens bei den Meinungsmachern auslöste, gibt es erstaunliche Parallelen zum Fall eines Mannes, der unter günstigeren Umständen Bundespräsident hätte werden können: Steffen Heitmann. Sein Name ist heute fast vergessen. Ein letztes Mal trat er 2015 in Erscheinung, als Heitmann angesichts der sogenannten „Flüchtlingskrise“ aus der CDU austrat und die Kanzlerin und Parteivorsitzende wissen ließ, daß er sich nie zuvor „so fremd“ in seinem eigenen Land gefühlt habe, nicht einmal zu DDR-Zeiten. Von einer Antwort ist nichts bekannt geworden, wahrscheinlich quittierte man den Vorgang an der Spitze der Union mit Achselzucken oder war froh, eine konservative Altlast und einen jener Quertreiber losgeworden zu sein, die bevorzugt in den neuen Bundesländern zu finden sind.

Die doppelte Eigenschaft als Konservativer und unbelasteter Mitteldeutscher konnte vor fünfundzwanzig Jahren noch als besondere Qualifikation gelten. Heitmann gehörte zu jenem Rest des Bildungsbürgertums, das unter widrigen Umständen in der DDR überlebt hatte. Oft war das nur im kirchlichen Raum möglich. So auch hier. Heitmann, 1944 geboren, wuchs in Dresden auf, verweigerte wie viele gläubige Christen im Osten den Militärdienst mit der Waffe und studierte nach dem Abitur Evangelische Theologie. Für einige Zeit war er als Geistlicher tätig, trat dann aber als Referent in den Dienst des Sächsischen Landeskirchenamtes und erhielt parallel dazu eine Ausbildung als Kirchenjurist. In dieser Funktion arbeitete Heitmann von 1982 bis 1990 als Leiter des Evangelisch-Lutherischen Bezirkskirchenamtes Dresden.

Gegen ein überzogenes Moralisieren „ex post“

Obwohl Heitmanns oppositionelle Haltung gegenüber dem Regime nicht offen zutage trat, konnte am Beginn der „Friedlichen Revolution“ kein Zweifel sein, auf wessen Seite er stand. Schon im Oktober 1989 spielte er eine Rolle als juristischer Berater der Dresdner Bürgerinitiative „Gruppe der 20“, im „Wendejahr“ 1989/90 gehörte er zur „Basisdemokratischen Fraktion“ der Dresdener Stadtverordnetenversammlung und wirkte aktiv bei der Auflösung der MfS-Bezirksverwaltung mit. Er hatte außerdem erheblichen Anteil an der Bildung eines neuen Landes Sachsen und der Ausarbeitung einer Landesverfassung. Im November 1990 übernahm er das gerade gebildete Sächsische Staatsministerium der Justiz.

Im folgenden Jahr trat Heitmann der CDU bei. Zwar fehlte ihm der nationale Bekanntheitsgrad, aber er zeigte keinerlei Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den „Wessis“, stand vielmehr für ein ungebrochenes gesamtdeutsches Bewußtsein, das sich in dem Milieu, aus dem er kam, erhalten hatte. 

Ihm war keine Verwicklung in das SED-System nachzusagen, er gehörte nicht zu den „Blockflöten“, war weit entfernt von irgendwelchen Ostalgien und entschieden gegen eine Amnestie für die Täter des Unrechtsstaates. Gleichzeitig äußerte er sich aber differenziert über das Verhalten des einfachen Mannes unter den Bedingungen der Diktatur. Aufgrund der Geradlinigkeit seines eigenen Verhaltens hätte Heitmann durchaus schärfere Urteile fällen können, verzichtete aber auf diese Möglichkeit. Das hatte zum einen mit seiner Prägung durch Luthers Zwei-Reiche-Lehre zu tun und dem Wissen darum, daß diese Welt eine „gebrochene“ ist, zum anderen ging es darum, die Integration der beiden deutschen Teilgebiete voranzubringen, und im Rahmen dieses schwierigen Prozesses war ein überzogenes Moralisieren ex post nur hinderlich.

Heitmanns Herkunft, Persönlichkeit und Integrität dürften für Helmut Kohl den Ausschlag gegeben haben, ihn als Kandidaten der Union für die Bundespräsidentschaft vorzuschlagen. Allerdings sollte sich zeigen, daß gerade die hervorragenden Charakterzüge Heitmanns unter den Bedingungen der Bundesrepublik zu einem entscheidenden Problem werden konnten. Denn Heitmann war entschlossen, Auffassungen offen zu vertreten, die eben nicht, oder um genau zu sein: nicht mehr, offen vertreten werden konnten. Deutlich wurde das in einem Interview, das Heitmann der Süddeutschen Zeitung gab und das am 18. September 1993 veröffentlicht wurde. Nachdem sich Heitmann skeptisch über den Begriff der „Multikulturellen Gesellschaft“ und positiv über den der „Nation“ geäußert hatte und klarstellte, daß er Mutterschaft keineswegs für ein überholtes Rollenmodell hielt, sprach er über das merkwürdige Sendungsbewußtsein der Deutschen im Hinblick auf ihre kollektive Schuld, das im Grunde nur ein Spiegelbild der kollektiven Hybris während der Zeit des NS-Regimes sei. 

In bezug auf die seit dem sogenannten „Historikerstreit“ besonders heikle Frage nach der „Einmaligkeit“ der Verbrechen des Hitlerregimes meinte er: „Ich glaube, daß der organisierte Tod von Millionen Juden in Gaskammern tatsächlich einmalig ist – so wie es viele historisch einmalige Vorgänge gibt. Wiederholungen gibt es in der Geschichte ohnehin nicht. Ich glaube aber nicht, daß daraus eine Sonderrolle Deutschlands abzuleiten ist bis ans Ende der Geschichte. Es ist der Zeitpunkt gekommen – die Nachkriegszeit ist mit der deutschen Einheit endgültig zu Ende gegangen –, dieses Ereignis einzuordnen.“

Die Formulierung fiel nicht aufgrund der Naivität Heitmanns – er sprach in dem erwähnten Interview auch sehr klar über die geltenden Tabus sowie die Mechanismen von Zensur und Selbstzensur –, sondern in der Annahme, daß es notwendig sei, für die Deutschen eine Bresche zu schlagen. Daß er mit der Einschätzung, es gelte, „dem deutschen Normalbürger eine Stimme“ zu geben und die Mehrheit der Bevölkerung stehe hinter seinen Positionen, recht hatte, kam später in einer Allensbach-Erhebung zur Geltung. Dabei wurden den Befragten die einzelnen Aussagen Heitmanns anonymisiert vorgelegt. Das Ergebnis war eindeutig: 78 Prozent stimmten seiner Meinung zu, daß es an der Zeit wäre, die Aufgabe der Frau als Mutter positiv zu werten, 71 Prozent bejahten die Notwendigkeit, die Geschichtspolitik im Hinblick auf die NS-Zeit zu korrigieren, und immerhin 64 Prozent teilten die Ansicht, daß die Masseneinwanderung keine Bereicherung, sondern eine Gefährdung des Landes bedeute.

Kanzler Kohl knickte nach der Kampagne schnell ein

Allerdings standen diese Positionen denen des politisch-medialen Komplexes diametral entgegen. Nach dem Erscheinen des Interviews wurde eine Kampagne von außerordentlicher Heftigkeit gegen Heitmann entfesselt. Kohl zögerte kurz, zog dann aber seine Unterstützung für dessen Kandidatur zurück. Bezeichnend war schon, daß er Heitmanns Beschimpfung durch den SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping als „intellektuell bescheiden, politisch ausgelaugt und rechtskonservativ“ widerspruchslos hingenommen und auf die Kritik aus dem eigenen Lager an einem „Nischen-Ossi“ (der Amtsvorgänger Richard von Weizsäcker) und der Drohung aus den Reihen des Koalitionspartners FDP, eine eigene Kandidatin (Hildegard Hamm-Brücher) zu präsentieren, eher verhalten reagiert hatte. 

Nach dem offiziellen Rückzug Heitmanns am 25. November 1993 war eine so klare Wertung des Vorgangs, wie sie die Frankfurter Allgemeine Zeitung vornahm – „Ein Opfer der ‘Political Correctness’“ – die Ausnahme, die Regel war Genugtuung darüber, daß die „Zumutung“ (taz) verhindert, ein Mann, der „überfordert und gefährlich“ (Der Stern) sei, vom Amt ferngehalten und solchermaßen das „Nationale Unglück“ (Der Spiegel) abgewendet werden konnte.

Heitmann hat die Beschimpfungen und den Verrat durch seine eigene Partei mit Haltung ertragen. Noch bis zum Jahr 2000 übte er das Amt als sächsischer Justizminister aus und ist dann – wiederum nach einer massiven Kampagne – zurückgetreten. Zu dem Zeitpunkt muß ihm längst deutlich gewesen sein, daß er je länger desto weniger Positionen vertrat, die in der CDU akzeptiert wurden. Von der Geltung der Zehn Gebote bis zur Notwendigkeit, die Wehrbereitschaft zu erhöhen, vom Widerwillen gegen die „Love Parade“ bis zur Ablehnung der Schwulenehe aus christlicher Überzeugung, vom guten Sinn des Volksbegriffs bis zur Bereitschaft, sich als „rechts“ zu bezeichnen, hat er sich trotzdem in einer Weise geäußert, die für seine geistige Unabhängigkeit und Souveränität Zeugnis ablegten, allerdings auch einen Mangel an Opportunismus zeigten, der für jede politische Karriere in diesem Land hinderlich ist. Um so schlimmer für das Land, muß man sagen, dem ein Bundespräsident wie Heitmann ohne Zweifel gutgetan hätte. Auf die Frage, ob er sich, wäre die Entwicklung anders verlaufen, den Forderungen des Amtes gewachsen gezeigt hätte, antwortete Heitmann mit berechtigtem Selbstbewußtsein: „Sie können versichert sein, daß ich es angemessen ausgefüllt hätte.“