© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/18 / 19. Oktober 2018

Keine militärische Lösung in Sicht
Afghanistan: Die Todesrate von Zivilisten schnellt in die Höhe / Taliban und IS-Dschihadisten setzen Regierung unter Druck
Marc Zoellner

Die Bombe galt der Kandidatin: Zu Hunderten waren ihre Anhänger in das kleine, unweit der afghanisch-tadschikischen Grenze gelegene Städtchen Rustaq gepilgert, um den Wahlkampfabschluß Nazifa Yousufi Beks zu feiern, als inmitten der Menge ein abgestelltes Motorrad explodierte. Der zeitgezündete Sprengsatz tötete zweiundzwanzig Menschen noch an Ort und Stelle und verletzte rund dreißig weitere Personen teils lebensgefährlich. Nazifa Bek hatte Glück im Unglück – sie befand sich zum Zeitpunkt der Explosion außerhalb der Gefahrenzone.

Attentate auf Politiker sind in diesen Tagen in Afghanistan keine Seltenheit: Immerhin finden am 20. Oktober die Wahlen zur „Wolesi Dschirga“, dem afghanischen Unterhaus statt. Bek ist eine von über 417 Frauen und 2.565 Bürgern insgesamt, die sich um einen der 249 Sitze der Abgeordnetenversammlung bewerben. Der 250. Sitz ist dabei der Glaubensminderheit der Sikh reserviert. 

Präsident Ashraf Ghani gerät in die Defensive 

Der Anteil der Frauen aber ist in dieser Wahl so hoch wie nie zuvor. Nicht nur von den Kandidatinnen her; auch von den sechs Millionen wahlberechtigten Afghaninnen hat sich bislang gut die Hälfte in den Wahlregistern eintragen lassen. Für radikalislamische Bewegungen wie die Taliban, welche die Wahl offen boykottieren und den Islamischen Staat, der seit Herbst 2014 in Afghanistan operiert, ist dies  ein Affront, dessen militante Unterbindung speziell auf Anschläge und Attentate im Umkreis von Wahlkampfveranstaltungen abzielt. So töteten mutmaßliche IS-Terroristen erst Anfang Oktober dreizehn Demonstranten in der östlichen Provinz Nangahar. Nur eine Woche später riß ein Selbstmordattentäter acht Menschen in Lashkar Gah, der Hauptstadt der Südprovinz Helmand, in den Tod; einschließlich des Spitzenkandidaten seiner Region, Saleh Mohammad Achekzai, der zu dieser Veranstaltung vor seinem Haus geladen hatte.

Achekzai war der bislang letzte auf einer langen Liste an Opfern: „Sieben Kandidaten, allesamt Männer, wurden bislang in Einzelangriffen getötet“, beruft sich die Nachrichtenagentur Reuters auf Aussagen afghanischer Regierungssprecher. „Zwei weitere wurden entführt und vier von militanten Islamisten verwundet.“

Unter dem Eindruck der zunehmenden Anschläge gerade auf Unbewaffnete gerät Afghanistans Präsident Ashraf Ghani zunehmend in die Defensive.Denn die innere Sicherheitslage seines Landes zeigt sich in diesem Jahr besonders prekär. Allein die Zahl der betroffenen Zivilisten, konstatiert die „Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan“ (UNAMA) in einem kürzlich veröffentlichten Bericht, liege mit fast 2.800 Getöteten und 5.250 Verwundeten so hoch wie nie zuvor seit dem Abzug der Isaf-Truppen von Ende 2014.

Überdies erwies sich auch die diesjährige Frühlingsoffensive der Taliban – nur kurz unterbrochen von einem Waffenstillstand im Juni – als erfolgreich für die Radikalislamisten und fatal für die Zentralregierung in Kabul. So finden sich im Westen des Landes mittlerweile ganze Provinzen in den Händen der Taliban. Im Nordosten der afghanischen Provinz Kundus, dem einstigen Stationierungsgebiet der Bundeswehr, hatten zuletzt vergangenen Freitag Regierungstruppen vor dem Ansturm der Taliban kapitulieren müssen. Und an der gebirgigen Grenze zum pakistanischen Peschawar konnte sich auch der Islamische Staat trotz anhaltender US-amerikanischer Drohnenangriffe fest etablieren.

Um die bereits um drei Jahre verschobenen Unterhauswahlen nicht als Debakel enden zu lassen, setzt Ashraf Ghani für dieses Wochenende 54.000 Sicherheitskräfte ein, um gut 5.100 der am stärksten gefährdeten Wahllokale zusätzlich abzusichern.

Taliban und USA verhandeln über Frieden  

Doch sowohl die Vereinten Nationen als auch die Vereinigten Staaten von Amerika zweifeln mittlerweile am Nutzen derartiger Großaufgebote Kabuls. „Da es keine militärische Lösung für Afghanistan geben kann, erneuert die UN ihren Aufruf zur friedlichen Beilegung des Konflikts“, mahnt UNAMA-Vorstand Tadamichi Yamamoto. „Sämtliche Parteien sollten ihr Möglichstes tun, um Zivilisten vor Leid zu schützen, einschließlich der Verwirklichung konkreter Fortschritte im Friedensprozeß.“

Bislang verweigern die Taliban direkte Gespräche mit der von ihnen nicht anerkannten Regierung in Kabul. In Katar allerdings trafen sich US- und Taliban-Diplomaten vergangenen Freitag zum wiederholten Mal, um über die Bedingungen zum Frieden im mittlerweile achtzehn Jahre dauernden Bürgerkrieg zu verhandeln. Scheinbar mit Erfolg: „Man sprach über das Ende der Besatzung und eine friedliche Lösung der afghanischen Angelegenheit“, bestätigte ein Talibansprecher im Anschluß der New York Times. „Beide Seiten verständigten sich darauf, diese Treffen in Zukunft fortzuführen.“