© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Vollkommen durch Destruktion
Josef Joffe erzählt die „Heilsgeschichte“ Deutschlands, die als „moralische Supermacht“ unter Merkel endlich Hitler überwunden hat
Thorsten Hinz

Für den Zeit-Herausgeber Josef Joffe stellt die Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis heute eine „weltliche Heilsgeschichte“ dar. Das „Waisenkind der Geschichte“, ein Land „ohne verwendbare (...) Vergangenheit“, hervorgegangen aus „der Konkursmasse des ‘Dritten Reiches’“, sei zum „Wunderkind des 21. Jahrhunderts“ geworden. Er erzählt die Karriere der Republik als deutschen Bildungsroman, der gattungsmäßig aus drei Teilen besteht: aus „der Not der Jugendjahre, den Prüfungen der Wanderjahre, der Läuterung und Reifung im Erwachsenenalter“. Es handele sich um die Geschichte einer „Wiedergutwerdung“.

Nur ist Joffe kein Romanautor, sondern einer der einflußreichsten deutschen Journalisten, ein Leitwolf, dessen Analysen und Kommentare zur Außenpolitik weithin verbindlich sind. Sein Einfluß verdankt sich neben seiner Intelligenz und Bildung auch den transatlantischen Netzwerken, denen er angehört. Seine Veröffentlichungen weisen eine deutliche „Schlagseite zu den USA und zur Nato“ auf, wie der Medienwissenschaftler Uwe Krüger in dem Buch „Medienmacht“ erklärte.

Joffe macht aus seinen Prämissen kein Geheimnis. Sein Parforceritt durch die Zeitgeschichte ist erfrischend unsentimental. Die Jugendphase der Bundesrepublik umfaßt den Wiederaufbau und die Westbindung. Natürlich sei die Bundesrepublik kein souveräner Staat gewesen, sie stand unter der Oberhoheit und Aufsicht der Sieger. Adenauer habe klugerweise die Nichtsouveränität eingetauscht gegen die Integration in das westliche Bündnissystem, um im Club der Sieger ein Mitspracherecht zu erhalten mit der ferneren Aussicht auf Selbstbestimmung. Was unter deutsch-französischer Freundschaft firmiert, war in Wirklichkeit eine prosaische Angelegenheit, in die die US-Amerikaner die alten Erbfeinde hineinzwangen.

Die Bewährungsphase enthält die sogenannte Vergangenheitsbewältigung, die Ostpolitik und die Zurückweisung des RAF-Terrorismus. Analog zu Adenauer gab Willy Brandt die faktisch verlorenen Ostgebiete formell auf, um sie gegen eine Schlüsselrolle im Verhältnis zu Osteuropa einzutauschen, was der Bundesrepublik sogar einen gewissen Spielraum gegenüber den USA verschaffte. Außerdem verhinderte er, daß die Westmächte sich über die Köpfe der Deutschen hinweg mit Moskau verständigten. Dieser Kurs wurde von Helmut Kohl fortgesetzt und mit der Wiedervereinigung und der Souveränität belohnt. Bis hierher kann man Joffes realpolitischen Lektionen folgen.

Was er über die Läuterungs- und Reifephase schreibt, gerät dagegen zum Amoklauf: Die Schuldenunion sei die europapolitische Krönung der Euro-Einführung, die übrigens „im Kern ein deutsches Projekt“ gewesen sei. Mit der Grenzöffnung 2015 hätte Deutschland seinen Ruf als „moralische Supermacht“ grandios bestätigt. Und Angela Merkel, die „Moralistin“ und Inkarnation der „guten“ Deutschen, feiert er als Moses’ Wiedergängerin: „Deutschland ist der sanfte Hegemon (in Europa) und Angela Merkel ihr Prophet.“ Wenigstens ist das Muster, das Joffe zeichnet, lehrreich: Was er als den Daseinszweck der zu sich selbst gekommenen Bundesrepublik lobt, sind die objektiven Selbstbeschädigungen Deutschlands.

Diese fatale Selbstvervollkommnung durch Destruktion ist die Folge eines geistig-moralischen Prozesses in der Gesellschaft, den Joffe „Gutwerdung“ nennt und der erst unter Merkel mit der praktischen Politik ganz verschmolzen ist. Die einzige Funktion der deutschen Vergangenheit – die der Autor vollständig im Schwarzen Loch des Nationalsozialismus verschwunden vermeint – hätte nach 1945 darin bestanden, „überwunden zu werden“ – und der Bundesrepublik ein handlungsleitendes Schuldgefühl mit auf den Weg zu geben. „Das Curriculum hieß: Re-Education, die Lehrer waren die Siegermächte.“ 

Allerdings haben die von Joffe gepriesenen Erfolge Adenauers oder Brandts ihren Grund nicht zuletzt darin, daß sie ihre realpolitische Abhängigkeit von den Siegern nicht mit einer Identität der Interessen verwechselten und in dem „Curriculum“ keine göttlichen Gesetzestafeln, sondern – bei aller Selbstbeschränkung und dem Wissen um die NS-Verbrechen – auch den Ausdruck von Fremdinteressen erblickten. Joffes „Gutwerdung“ meint hingegen die totale Internalisierung der Fremdzuschreibung und ein Aufgeben eigener Identität.

Deshalb ist auch seine Berufung auf den deutschen Bildungsroman falsch, denn dieser kennt weder eine „Stunde Null“ noch einen Identitätsschnitt. Die Vergangenheit der Figuren wird dort nicht entsorgt, sondern dialektisch aufgehoben. Das unterscheidet ihn von den Unheilsgeschichten der Zombie-Romane. Joffes Nachkriegserzählung ist in weiten Strecken eine unfreiwillige Parodie. Der Autor befindet sich in der Position des Hauslehrers Pangloss aus Voltaires Satire „Candide“, der dem Romanhelden gegen alle Einwände monoton erklärt, daß „alles zum Schönsten, alles zum Besten“ in der Welt bestellt sei einschließlich des Erdbebens von Lissabon. Immerhin erfährt man aus dem Buch, wie unsere transatlantischen Eliten ticken und warum sie Merkel so großartig finden.

Josef Joffe: Der gute Deutsche. Die Karriere einer moralischen Supermacht. C. Bertelsmann Verlag, München 2018, gebunden, 256 Seiten, 20 Euro