© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Komplottheorie der besonderen Art
Der US-Historiker Timothy Snyder über den von Putin gelenkten „Weg in die Unfreiheit“, bei dem er alle bösen Mächte dieser Welt steuert – von Trump bis zur AfD
Karlheinz Weißmann

Timothy Snyder ist das, was man einen Erfolgsautor nennt. Er gehört zu jenem vor allem im angelsächsischen Raum verbreiteten Typus des Akademikers, der mit Breitenwirkung schreiben kann. Von Beruf Historiker und Professor in Yale hat er seit dem Erscheinen des vielbeachteten Bandes „Bloodlands“ (2005) – der die Massenmorde in Ostmitteleuropa durch das NS-Regime einerseits, die der Sowjet-union andererseits behandelt – Arbeiten veröffentlicht, die vielmehr die Gegenwart zum Thema haben.

In diese Reihe gehört auch das neueste Buch Snyders mit dem Titel „Der Weg in die Unfreiheit“. Selbstverständlich ist der Anklang an den Titel des berühmten Werks Friedrich August von Hayeks „Der Weg in die Knechtschaft“ gewollt. Denn Snyder nimmt wie Hayek in Anspruch, jene ersten Fehltritte auszumachen, die zuletzt in den Abgrund führen werden. 

In unserer Zeit soll das Unheil seinen Ausgang im Osten genommen haben, genauer gesagt im Rußland der Nach-Jelzin-Ära. Als sich Moskau allmählich von der postkommunistischen Depression erholte und Putin an die Spitze trat, löste das nach Snyders Auffassung einen Prozeß aus, der die entscheidenden Errungenschaften des Westens – Egalität, Individualismus, Fortschritt – in Frage stellte. Das heißt, für ihn ist weniger die Bedrohung der USA als einziger Weltmacht das Problem. Ihm geht es vielmehr um einen neuen politischen Stil, den Putin kreiert haben soll, und den Snyder „Politik der Ewigkeit“ oder „Politik der Unausweichlichkeit“ nennt. 

Darunter ist die Errichtung eines halbautoritären Regimes zu verstehen, das Wahlen zwar zuläßt, aber manipuliert und die innere Geschlossenheit als obersten Wert betrachtet, der vor allem dadurch aufrechtzuerhalten ist, daß man Bedrohungen fingiert. Für Snyder handelt es sich letztlich um eine Variante des Faschismus, den er ganz einfach als politische Form definiert, die auf „Emotionen und Lügen“ beruhe. Der Faschismus lehnt den Frieden ab, da er die Aufstachelung benötige, um den Zusammenhalt zu stärken, und die Wahrheit verwerfe er, da er den Tatsachen nicht ins Auge blicken könne, sondern sich und die anderen durch den Rückgriff auf Mythen und das Kreieren von Untergangsphantasien täuschen müsse.

Folgt man Snyder, dann hat dieser Neo-Neo-Faschismus seinen Ursprung in den Ideologien der Weißen der Zwischenkriegszeit, dem esoterischen Hitlerismus der Nachkriegszeit und den Wahnvorstellungen russischer Politikberater der Gegenwart. Das alles könnte ungefährlich sein, wenn es Putin nicht gelungen wäre, zum „weltweiten Führer der extremen Rechten“ aufzusteigen. In dieser Funktion mache er alle möglichen Gruppierungen außerhalb Rußlands – vom Front National und der AfD bis zur Alt Right in den USA – zu seinen gefügigen Werkzeugen. 

Diese gierten förmlich danach, das russische Modell zu kopieren und dabei auch die perfiden Methoden ihres Herren zu übernehmen; vor allem das Konzept des Cyberkriegs, mit dessen Hilfe sich verdeckter Einfluß auf die noch funktionstüchtigen Demokratien ausüben lasse. Nur so erkläre sich, daß das US-amerikanische Volk dazu gebracht werden konnte, gegen sein ureigenes Interesse zu handeln und dem „Sadopopulisten“ nachzulaufen. Über die von Snyder hervorgehobene Korrelation zwischen Drogenkonsum und trumpism mag man denken wie man will, aber für Snyder ist das im Grunde nebensächlich. Er betrachtet den Wahlsieg Trumps als Ergebnis russischer Manipulation und als Wiederholung eines Coups, der beim ersten Versuch – der russischen Machtübernahme in der Ukraine – noch gescheitert sei, aber beim zweiten Anlauf ein voller Erfolg war.

Man könnte das alles mit einem Kopfschütteln beiseite legen, würde vielleicht noch einige besonders verquaste Formulierungen anmerken („Tugenden gehen aus den Institutionen hervor, die sie erstrebenswert und möglich machen.“ „Wir sind in eine Welt geworfen, die wir uns nicht ausgesucht haben, deshalb brauchen wir die Gleichheit, damit wir aus Mißerfolgen lernen können, und das ohne Groll.“) und sich lediglich die Frage stellen, warum Snyder keinen Gedanken auf die innere Rationalität der Systemkrise verwendet, warum er die russische Nutzung von Soft Power für verwerflicher als die US-amerikanische hält, und die sich versteifende Abwehr einer Politik als pathologisch betrachtet, die er als „Integration“ bezeichnet und die doch permanent „Desintegration“ hervorruft. Aber damit würde man es sich zu leicht machen. Denn Snyder spricht letztlich nur aus, was in den Köpfen der westlichen Eliten als Weltbild festsitzt: eine Komplottheorie der besonderen Art, nicht vertreten von Leuten, die Aluminiumhütchen tragen, sondern von denen, die wohlbestallt auf Lehrstühlen sitzen, Thinktanks leiten, bei den Führern der freien Welt allzeit Gehör finden und in den Qualitätsmedien und -verlagen jede Publikationsmöglichkeit.

Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. Rußland, Europa, Amerika. Verlag C.H. Beck, München 2018, gebunden, 376 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro