© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Dichtender Wegbereiter
Die Gegenwart in die Vergangenheit hineingesehen: Wie der Foucault-Adept W. Daniel Wilson die Brücke von Goethe zu Hitler schlägt
Wolfgang Müller

Ziemlich genau hundert Jahre waren seit dem Tod des Olympiers vergangen, als die auf Hochbetrieb laufende, einseitig literaturhistorisch fixierte Goethe-Forschung bemerkte, daß der Dichter im Hauptberuf ja Politiker, Minister, Beamter, Jurist gewesen war. Die erste gründliche Untersuchung, Hans Bürgins Monographie über den „Minister Goethe vor der römischen Reise“, lag daher erst 1933 vor. Kriegsbedingt verzögert, folgten ihr dann bis in die achtziger Jahre sehr viel umfassendere Darstellungen, die alle von einem DDR-Prestigeprojekt profitierten, der Jahrzehnte währenden Edition der amtlichen Schriften Goethes.

W. Daniel Wilson, ein in Berkeley lehrender US-Germanist, blieb jedoch mißtrauisch, weil der aus den Akten rekonstruierte „politische Goethe“ so gar nicht Ludwig Börnes gehässigem Klischee vom Dichter als „Fürstenknecht“ entsprach. Er begab sich daher schon vor dem Mauerfall nach Weimar, um dort in den Archiven nach womöglich „übersehenen“ Spuren zu suchen, die nicht ins deutsch-deutsch schon verfestigte positive Bild vom Verfechter eines aufgeklärten, sozialreformerischen, beinahe liberalen Absolutismus passen wollten. 

Wilsons Ehrgeiz richtete sich darauf,  die „dunkle, feudalabsolutistische Seite“ der Weimarer Klassik aufzudecken, um einen Beitrag zu der an US-Hochschulen infolge emsiger Foucault-Rezeption gerade in Mode gekommenen, Parterre-Instinkte entfesselnden Dekonstruktion lästiger, nicht marktkonformer Traditionen zu leisten. Zum starken „Einfluß Foucaults auf meine Arbeiten“, also auf sein Welt- und Geschichtsbild, hat sich Wilson Kritikern gegenüber immer wieder gern bekannt. 

In seinen ersten, wegen mancher wertvoller Archivfunde durchaus verdienstvollen Büchern, „Geheimräte gegen Geheimbünde“ (1991) und „Das Goethe-Tabu“ (1999), figuriert der Minister-Dichter mithin als ein dem „Machtdispositiv“ (Foucault) gehorchender, willfähriger Helfer des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar, als ein Hauptverantwortlicher für den Soldatenhandel, die Unterdrückung der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit, für Zensur, Mißachtung der Menschenrechte, Ausbeutung und soziale Ungleichheit. 

Nicht einmal die vom bundesdeutschen Feuilleton begierig kolportierte Aktualisierung „IM Goethe“ verkneift sich Wilson mit Blick auf angeblich „verdeckte Ermittlungen“ des Herzogs und seines Ministers in einer „illuminierten“ Freimaurer-Loge. Die „tiefe Kluft zwischen Goethes humanistischen Idealen und seiner menschenfeindlichen amtlichen Praxis“ schien damit für Wilson jedenfalls erwiesen. 

Diesem denunziatorischen, auf Diskreditierung von bedeutenden Kulturträgern, auf Dekonstruktion von Überlieferungen und Identitäten zielenden  Duktus ist Wilson mit einer Edition zu „Goethes Weimar und die Französische Revolution“ (2004) sowie mit voyeuristischen Reporten – Goethes „Ansichten zur Homosexualität“ (2012), seine „Erotica und die Weimarer ‘Zensoren’“(2015) – treu geblieben. Jedoch war danach Goethe selbst als Objekt solcher Skandalisierungen endgültig verbraucht. 

Mit seiner jüngsten Publikation wechselt Wilson daher von Goethe zur Goethe-Gesellschaft (GG). Die besteht zwar seit 1885, aber ordentlich Sensation machen läßt sich mit ihrer Geschichte natürlich nur für die kurze Zeit zwischen 1933 und 1945. Der 2003 verstorbene Schriftsteller Peter Hacks (siehe Seite 16), ein Goethe-Kenner und -Liebhaber von Gnaden, der Wilson schon nach Erscheinen seiner Erstlinge einen „selbst für die Verhältnisse eines nordamerikanischen Germanistikprofessors beachtlichen Idioten“ nannte, hätte heute dessen reißerisch „Der Faustische Pakt“ betitelte GG-Enthüllungen gewiß mit der Sottise kommentiert, damit sei des Autors von jeher angestrebter Brückenschlag von Goethe zu Hitler endlich geglückt. 

Konturiert doch bereits das „Goethe-Tabu“ penetrant die „strukturellen Ähnlichkeiten zwischen aufgeklärt-absolutistischem und totalitärem Staat“. Für den klarsichtigen Marxisten Hacks zielen all diese Attacken gegen den Minister Goethe zugleich auf die Weimarer Kultur als Zentrum deutscher Identitätsfindung sowie auf die deutsche Staatsidee. Der ultraliberale Berkeley-Professor, Bürger eines Landes, das sich „im Kindergartenzustand der Menschheit“ befinde, der über Menschenrechtsverletzungen im Absolutismus und ausgerechnet von Kalifornien aus über die im 18. Jahrhundert geübte Todesstrafe lamentiere, setze Goethe kurzerhand gleich mit „das klassische Weimar“, und „das ist Hitler“. Goetheverehrung sei von solcher exaltiert kosmopolitischen Position aus folglich der „letzte Deckmantel für heutige Staatsanbeter und Tyrannenlober“.

Über das Strickmuster der GG-Geschichte eines Foucault-Adepten, der „überall Nationalsozialismus wittert“ (Michael Holtermann, 1993), ist damit das Wesentliche gesagt.

Wie die Graugans ihre Ei-Roll-Bewegung, spult Wilson seinen alten Faden ab. Wieder preßt er den reichen Ertrag löblicher Archivgrabungen abermals durchs ideologische Nadelöhr. Begleitet vom so obsessiven, wissenschaftlich unseriösen Gebrauch polemischer Begriffe wie „Nazideutschland“, „Nazipartei“, „Nazi-Funktionäre“, „naziaffin“ usw., ordnet er seine Materialmassen zur Chronik eines trivialen Prozesses der Anpassung, wie er sich in Deutschland seit dem 30. Januar 1933 staatlich und gesellschaftlich auf allen Ebenen vollzog und dessen Ablauf die zeithistorische Forschung in Myriaden von Fallstudien nachzeichnete.

Das prominente Beispiel der GG bildet davon keine Ausnahme. Auch unter Bildungsbürgern wurde kräftig „gesäubert“ und „gleichgeschaltet“. Politisch Mißliebige, rassenpolitisch Stigmatisierte verschwanden aus der Führung von Muttergesellschaft und Ortsvereinen. Und nur aufgrund hinhaltend-halbherzigen Widerstands des Weimarer Präsidiums fand der „Arierparagraph“ keine konsequente Umsetzung. So blieben Juden Mitglieder der GG noch bis zur „Reichspogromnacht“ 1938. 

Solche internen Rangeleien und Diskriminierungen mögen menschlich zwar höchst unerfreulich sein. Aber sie überschreiten das unappetitliche, in allen Regimen unter Akademikern, Intellektuellen, Künstlern geltende Normalmaß des Opportunismus nicht, wie derzeit Ergebenheitsadressen von „Kultur-“ und „Geschichtsschaffenden“ selbst im „freiesten Deutschland, das es je gab“ bestätigen. Ebensowenig fällt aus diesem Rahmen, was Wilson über die externen Aktivitäten der GG mitteilt. Denn die Verwalter des klassischen Geisteserbes taten zur NS-Zeit nichts anderes als vor 1933 und nach 1945: sie „instrumentalisierten“ Goethe für die kulturpolitisch jeweils benötigte Sinnstiftung. Sie halfen mit, Herrschaft zu „legitimieren“, indem sie ihren Heros als Garanten der Überlegenheit deutscher Kultur zunächst innen-, ab 1939 dann als Träger „deutscher Weltmission“ verstärkt außenpolitisch einsetzten. Wobei das Engagement, wie Wilson fast im Kleingedruckten konzediert, eigentlich moderat ausfiel, da später die direkte Vereinnahmung der GG durch das SED-Regime und seinen „Kulturbund“ die „Gleichschaltung durch Goebbels in den Schatten gestellt“ habe.

Wie bei Wilsons ahistorisch-moralisierenden Prämissen nicht verwunderlich, unterlaufen ihm viele, peinliche zeitgeschichtliche Wissenslücken verratende Fehler. Die baltischen Staaten nennt er „Ostgebiete“, die die „Nazis“ 1938 genauso als „deutsche Territorien betrachtet“ hätten wie das an Polen abgetretene Westpreußen. Der alliierte Luftkrieg, der im Februar 1945 noch Weimar und Goethes Haus am Frauenplan traf und zuvor, am 22. März 1944, seinem Todestag, sein Frankfurter Vaterhaus gezielt zerstörte, richtete sich für den Terror-Apologeten Wilson trotzdem nicht gegen die Geistes- und Kulturzentren des Reiches, sondern sollte die Deutschen lediglich zum Aufstand ermuntern! Daß Wilson neben solchen Böcken den jüdischen Philosophen Arthur Liebert in einen „Islamwissenschaftler“ verwandelt oder er dem Philosophen Max Wundt die Verfasserschaft des Pamphlets „Der ewige Jude“ andichtet, ist schon fast belanglos.

Schuld am „Faustischen Pakt“ zwischen GG und NS-Regime sei der Dichter selbst. Denn Wesentliches am „braunen Goethebild hatte Hand und Fuß“. Goetheverehrer und Nationalsozialisten hätten sich daher leicht mit der Weltanschauung eines Mannes identifiziert, der Nationalist, Antisemit, Gegenaufklärer, Verächter der Menschenrechte und, „wie die Nazis“, Gegner von „Geheimgesellschaften und Freimaurern“ gewesen sei. Wie jemand ungeachtet eines derart hemmungslos simplifizierenden Präsentismus den Altgermanisten Ulrich Pretzel zustimmend zitieren kann, bleibt ein Rätsel. Dieser Bruder Sebastian Haffners hatte 1938 nämlich regimefromme Kollegen vor dem gewarnt, was heute Markenzeichen der Goethe-Rezeption à la Wilson ist: „die Gegenwart in die Vergangenheit hineinzusehen.“

W. Daniel Wilson: Der Faustische Pakt. Goethe und die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich. Dtv Verlagsgesellschaft, München 2018, gebunden, 368 Seiten, Abbildungen, 28 Euro