© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Der Flaneur
Die alte Dame und ich
Bernd Rademacher

Ich lebe mit einer Seniorin zusammen. Das ist nicht immer einfach. Ihre Augen und Ohren sind nicht mehr so gut. Der Gang ist unsicher, sie stolpert manchmal. 

Und sie entwickelt manche Schrullen: An manchen Tagen ist sie stur wie ein Esel, dann wieder vital wie eine Jugendliche. Ihr Appetit läßt nach, dafür trinkt sie wie ein Kamel. Dann kann sie nachts das Wasser nicht mehr halten und pinkelt auf den Boden. Ich verliere keine Worte darüber und wische das Malheur einfach weg.

Was hat sie nicht schon alles erlebt? Einmal ist sie sogar mit einem Verehrer durchgebrannt.

Wenn wir spazierengehen, damit ihre Gelenke nicht einrosten, muß sie oft Pause machen und atmet schwer. Manchmal wird sie unleidlich und blafft Jugendliche an. Sie ist immer noch sehr charakterstark und hat ihren eigenen Willen. Wenn ich sonntags ihr Lieblingsgericht auftische, ist sie im Glück: Rindertatar mit Eigelb. Nach dem Essen macht sie ein ausgedehntes Nickerchen und schnarcht dabei laut. 

Man sieht ihr das Alter an: Ihr Hals wird dicker, sie hat Hautprobleme und die Haare sind stumpf und werden weniger. Manchmal kann sie nicht schlafen und geistert nachts durchs Haus, dann habe ich Angst, daß sie dement wird.

Was hat diese alte Dame schon alles erlebt? Jagdabenteuer, Winterabende vor dem Kaminfeuer, Strandurlaube. Sie hat böse Krankheiten überstanden und sich ausgelassene Balgereien geleistet. Einmal ist sie sogar mit einem viel jüngeren Verehrer durchgebrannt. 

Sie hat Unfälle überlebt und unsere Kinder miterzogen. Wir haben einige Auseinandersetzungen darüber geführt, wer im Haus das Sagen hat. Aber sie hat an ihrer Loyalität nie einen Zweifel gelassen. Wir hängen doch mit großer Liebe aneinander. Das bestätigt sie mir immer wieder mit ihren Blicken.

Dabei ist sie erst neun Jahre alt – aber das ist für einen großen Hund eben schon der Spätherbst des Lebens.