© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Der Künstler hat eine Heimstätte zu bauen
Klassengesellschaften: Eine Biographie über den unzeitgemäßen sozialistischen Klassiker Peter Hacks
Wolfgang Müller

An falscher Bescheidenheit litt Peter Hacks nicht. Gefragt nach den produktivsten und sprachmächtigsten deutschen Schriftstellern seit 1945, fielen ihm nur zwei ein: als Prosaist Arno Schmidt und als Dramatiker – Peter Hacks.

Eine Plazierung in der Beletage des Parnaß, die Literaturhistoriker heute allenfalls für den Autor von „Zettels Traum“ akzeptieren. Um Hacks hingegen ist still und stiller geworden. Feuilleton und germanistische Forschung verweigerten ihm beharrlich die angemessene Aufmerksamkeit, und die erste umfassende Biographie, verfaßt von dem Altersgenossen Jochanan Trilse-Finkelstein, ließ bis 2015 auf sich warten. Der überaus materialreiche Wälzer wirkt jedoch wie ein zwischen Buchdeckeln ausgeschütteter Zettelkasten. So ist es das größte Verdienst des zweiten, vom Junge Welt-Redakteur Ronald Weber gewagten Anlaufs, jetzt endlich eine Hacks-Biographie vorgelegt zu haben, in der Struktur und Ordnung herrschen.

Weber, ein linker „Wessi“ des Jahrgangs 1980, in Göttingen 2014 promoviert über die Dramenästhetik von Hacks und Heiner Müller, geht konventionell chronologisch vor, verklammert Leben, Werk, Zeitgeschichte und liefert die erwünschte so dichte wie überwiegend sachliche Beschreibung, ohne dem Leser allzu sehr mit moralinsauren Zensuren oder „antifaschistischen“ Bekenntnissen auf die Nerven zu gehen.

Übersiedlung von München nach Ost-Berlin

Hacks’ Werdegang ist, wie Weber ungeachtet der eher dürftig dokumentierten Breslauer Jugendzeit überzeugend herausarbeitet, geprägt von erstaunlicher Geradlinigkeit. Das hochbegabte Kind eines sozialistisch engagierten Anwalts und einer Montessori-Kindergärtnerin, Bücherwurm und Marathon-Leser von klein auf, geriet nach 1933 zwangsläufig in eine Position, in der er sich fortan zeitlebens wohlfühlte: in die des Außenseiters. Eigensinn wurde für den Flakhelfer, der sich mit Gleichgesinnten in der Breslauer Swing-Jugend gegen die NS-Vereinnahmung immunisierte, in den letzten Kriegswochen zur Überlebensstrategie, als er sich dem Zugriff der Gestapo entziehen und sich Richtung Bayern absetzen konnte. Diesen Eigensinn kultivierte der Student anschließend in München, wo er auf Distanz zur Schwabinger Szene und der existentialistischen Mode achtete. Die nur scheinbar gegensätzlichen Prägungen des Elternhauses, bürgerlich und sozialistisch, reiften in dieser Studienzeit aus. Der stets elegant gekleidete, Formlosigkeit hassende nachmalige „Oscar Wilde der DDR“ schloß „nach solider philologischer Ausbildung“ sein Studium mit einer Promotion ab. Erst danach versuchte Hacks, sich als freier Schriftsteller zu etablieren. 

Was mißlang, trotz verheißungsvoller Anfänge und schöner Erfolge als Verfasser von Hörspielen für Kinder und Erwachsene. Dem Nonkonformisten behagte die Atmosphäre der westdeutschen „Restauration“ und des bayerischen „Faschistoklerikalismus“ nicht. Noch war er kein Marxist, nur unbestimmt „irgendwie links“, glaubte aber schon zutiefst daran, daß es in der Welt vernünftig zugehen soll. Den „irrationalen Morästen“ der Bonner Republik kehrte er daher 1955 mit der Übersiedlung nach Ost-Berlin den Rücken. 

Die DDR war für Hacks nicht einfach das bessere Deutschland, sondern eine noch in Klassenwidersprüchen verstrickte Übergangsgesellschaft, die sich aber, an der Seite der Sowjetunion, unter der Leitung der SED, auf dem Weg zur „Heimstätte der Vernunft“, zur idealen, sozialistischen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens befand. Anders als im kapitalistischen Westen, wo für ihn der Kunst und der Literatur wie gewohnt die ideologische, manipulative Aufgabe zukam, falsches Bewußtsein zwecks Herrschaftssicherung zu erzeugen, bot der Osten Künstlern die Chance, die Gesellschaft zu humanisieren. 

Zunächst im Fahrwasser Brechts, nahm Hacks, mehr Hegelianer als Marxist, diese Chance wahr und dramatisierte in Dutzenden von zumeist historisierenden Stücken, die sich für ihre Stoffe und Motive virtuos aus dem Fundus der Weltliteratur bedienten, den Gang der Vernunft durch die Geschichte. Sein didaktisches, volkspädagogisches Theater wollte das Publikum im Arbeiter- und-Bauern-Staat darüber aufklären, wie Klassengesellschaften funktionieren und unter welchen Bedingungen sie zu verändern sind. Von der Autonomie der Kunst konnte vor dem Hintergrund dieser geschichtsphilosophisch begründeten Ästhetik für Hacks natürlich keine Rede mehr sein. Kunst erfüllte im sich entwickelnden Sozialismus eine soziale Funktion. Sie hatte mit dem Publikum über die ihm im Kunstwerk angebotenen Abbildungen der Gesellschaft zu kommunizieren, um den Prozeß progressiver Veränderungen in Theorie und Praxis in Gang zu halten.

Politische Interventionen für die sozialistische Utopie

Weber ist es gelungen, dem Leser das Werk des Dichters von diesem zentralen revolutionären Anspruch aus zu erschließen. Das gesamte Schaffen des „sozialistischen Klassikers“ Hacks blieb diesem Anspruch mit selten erlahmender Emphase über den Zusammenbruch der DDR hinaus verpflichtet und motierte ihn zu seinen im Westen stets mit lauter Empörung quittierten politischen Interventionen: für den Mauerbau, gegen das 68er-Revoluzzertum und dessen auf sexuelle Libertinage hinauslaufende „Freiheit der Leere“ (Hegel), gegen den „Prager Frühling“, für den „aufgeklärten Absolutismus“ des hochverehrten Walter Ulbricht und für dessen „kontrollierten Liberalismus von oben“, für die Ausbürgerung des sich geschäftstüchtig der „Konterrevolution“ anbiedernden „Tingeltangelsängers“ Wolf Biermann, gegen Ulbrichts Nachfolger, den ungebildeten Kretin Erich Honecker, der die DDR als Kulturstaat und damit die sozialistische Utopie zugunsten einer notwendig erfolglosen Anpassung an die westdeutsche Konsumgesellschaft preisgab, gegen Glasnost und Perestroika.

Leider verliert Weber diesen Ariadnefaden immer wieder aus den Augen und spaziert auf Holzwegen. Wohl jenes Viertel des opulenten Textes scheint überflüssig, das ermüdende Details der Theatergeschichte der DDR verhandelt und Hacks Verhältnis zu Intendanten, Regisseuren, Schauspielern auswalzt, während seine Kritik am Regietheater („reine Westscheiße“) nur marginal erwähnt wird. Ebensowenig findet man eine auch nur halbwegs passable Interpretation des zugkräftigsten seiner Stücke, des „Gesprächs im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe“ (1976). Zu Hacks als Kinderbuchautor und Märchenerzähler fällt Weber erst recht nichts ein. Dafür widmet er sich ausufernd dem Privatleben des Mannes, der die Frauen so liebte wie das stattliche Bündel seiner Privilegien, die er als über Westreisen, Landsitz und reichlich Devisen verfügender Staatskünstler genoß. 

Vernichtende Urteile über bundesdeutsche Ideologien

Es fällt auf, daß Weber, der Hacks Werk heute als „aus der Zeit gefallen“ einstuft, bemüht ist, dieses Unzeitgemäße zu glätten oder zu verschweigen. Nur angedeutet wird deshalb Hacks’ Kritik an der politischen und folglich künstlerischen Inkompetenz westdeutscher Literaten vom Typus Böll-Grass-Lenz-Rinser-Walser, deren Werk heillos in den Schablonen der Umerziehung gefangen und von schlechtem Journalismus nicht zu unterscheiden sei, oder vom Typ Uwe Johnson, dessen radikaler Subjektivismus die Welt nicht mehr adäquat beschreiben könne und deshalb in Pessimismus und Nihilismus abrutsche.

Nicht mehr als Skizzen gönnt Weber Hacks’ vernichtenden Urteilen über zwei Herzstücke der Ersatzreligion bundesdeutscher Intellektueller: Feminismus und Vergangenheitsbewältigung. Beide waren für ihn Ideologien, um im Kapitalismus von substantiellen politisch-ökonomischen Problemen des entfremdeten Lebens abzulenken. „Geschlechterfragen“ würden nur Eigentumsfragen verdecken, die Korrektur von Gleichberechtigung laufe auf gleiche Teilnahme an entfremdeter Arbeit hinaus. Noch politisch unkorrekter klingt, was Weber lieber ganz wegläßt: Die linke Antwort, so Hacks 1982 zu seinem Eckermann André Müller sen., auf die Ausländerfrage sei wie üblich dümmlich. „Natürlich wehrt sich jedes Volk gegen Menschen, die sich hier wie die Türken als integrationsunwillig herausstellen.“

Daß ein hochkarätiger Selbstdenker mit solchen Ansichten in der gegenwärtigen Bundesrepublik, wo jene destruktiven Kräfte Macht ausüben, die aus seiner Sicht seit 1968 Kurs auf „Zertrümmerung“ und „Zerstörung“ nehmen, als großer Unzeitgemäßer draußen steht, ist historisch konsequent. Allerdings hat der kaustische Dialektiker noch einen Fuß in der Tür. In Gestalt seiner Schülerin Sahra Wagenknecht, „das hübsche Pflänzchen, das ich mir da herangezogen habe“, „der einzige theoretische Kopf, den die Kommunisten haben“.

Roland Weber: Peter Hacks. Leben und Werk. Eulenspiegel-Verlag, Berlin 2018, gebunden, 560 Seiten, 39 Euro