© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Fluch des Wirklichkeitsverlustes
Literatur: Bernhard Schlink erzählt von einer Liebe, verschlungen in die Wirrungen deutscher Geschichte
Felix Dirsch

Bernhard Schlink, Bestsellerautor seit Jahrzehnten, ist nicht zu beneiden. Der aus bildungsbürgerlichem Elternhaus stammende Jurist veröffentlichte 1995 seinen Welterfolg „Der Vorleser“, dessen Verfilmung ebenfalls Furore machte. Seither legte Schlink eine Reihe vielbeachteter Erzählungen vor, etwa „Liebesfluchten“ und „Heimkehr“. Viele Kritiker verzeihen es jedoch nicht, wenn spätere Werke im Niveau abfallen. Immer steht die Frage im Raum: Ist es so gut wie der „Vorleser“? Ehrlicherweise hat man stets verneinen müssen. Jedoch hängt die Latte zwangsläufig hoch. Das relativiert solche Urteile erheblich.

Auch „Olga“ erreicht nicht ganz die Qualität des „Vorlesers“. Immerhin sind sprachliche Parallelen nicht zu übersehen. Die Erzählstruktur wie auch der Aufbau der Geschichte knüpft an die Glanzleistung der neunziger Jahre an.

Blick auf die wechselhafte deutsche Geschichte

Der Roman, der zeitlich vom frühen 20. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart reicht, gliedert sich in drei Teile: Zuerst wird die Epoche vor 1945 geschildert. Olga Rinke ist eine starke Frau. 1883 geboren, wächst sie bei ihrer eher empathielosen Großmutter in Pommern auf. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, schafft sie es, den Beruf der Lehrerin zu ergreifen. Dennoch ist die Aufsteigerin keine standesgemäße Partie für den Gutsbesitzerssohn Herbert Schröder, mit dem sie eine Liebesbeziehung eingeht. Diese dauert weit über dessen Tod hinaus. Die erlittenen Enttäuschungen lassen Olga nie mehr los.

Herbert personifiziert das wilhelminische Deutschland, er strebt nach neuen Ufern, geht auf Expeditionen. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges kommt der Abenteurer auf dem Weg in die Arktis um. Seine Geliebte steht dem Hurrapatriotismus distanziert gegenüber. Während Herbert aufbricht, die Welt zu erobern, bringt Olga den unehelichen Sohn Eik zur Welt. Ihre Gefühle zu ihm sind ambivalent. Daher wächst er als Findelkind in ihrer Umgebung auf. Zum endgültigen Bruch kommt es, als Eik mit dem Nationalsozialismus sympathisiert. Olga hingegen verliert in der Zeit der NS-Herrschaft ihre Stelle als Lehrerin. 

Der zweite Teil des Romans setzt nach der Flucht 1945 ein. Olga verdingt sich in den fünfziger Jahren als Näherin im Haushalt eines evangelischen Geistlichen. Sie nimmt sich dessen Sohnes Ferdinand an, zu dem sie eine enge Beziehung pflegt. Er nimmt nun die Perspektive des Ich-Erzählers ein. Nach der Promotion tritt er in die Dienste eines Ministeriums. Olga, inzwischen betagt, wird beim Attentat auf das örtliche Bismarck-Denkmal getötet. Dieses Unglück verrät hintergründige Symbolik, lehnte Olga doch den Bismarck-Kult als eine Wurzel des imperialistischen Übels ab.

Im abschließenden Teil spinnt Ferdinand, mittlerweile im Ruhestand und verwitwet, den Erinnerungsfaden weiter. Er interessiert sich für Olgas Briefe an Herbert, die auf einem Postamt in Norwegen gelagert sind. Die Präsentation der Korrespondenz ist tiefschürfend wie kein anderer Teil der Erzählung. Olga schreibt dem Geliebten auch nach dessen Ableben. So fährt Ferdinand nach Tromsö. Von dort ist Herbert einst nach Nordostland aufgebrochen. Bei seinen Recherchen trifft Ferdinand auf Adelheid, eine Tochter Eiks, der inzwischen verstorben ist. Ferdinand führt ausgiebige Gespräche mit ihr über ihre Großmutter, die sie nur vom Hörensagen kennt. Die Erzählung endet mit der Wahrnehmung Ferdinands, daß die Enkelin der Großmutter ähnlich ist. Er beginnt sich vorsichtig anzunähern.

Der Romancier Schlink bleibt sich auch in diesem Werk treu. Erneut blickt er in die wechselhafte deutsche Geschichte. Das deutsche Volk verliert in dieser Sicht seinen Bezug zur Wirklichkeit. Lange vorher beschrittene Sonderwege führten spätestens ab 1933 in die Katastrophe. Ein facettenreiches Thema. Doch ein solcher Blick bleibt zu sehr dem Gestern verhaftet. Leider fehlt dem SPD-Mitglied die Courage, diese Perspektive auf die unmittelbare Gegenwart zu übertragen. Was zeigt den gegenwärtigen Wirklichkeitsverlust stärker als die Willkommenseuphorie, deren Auswirkungen unübersehbar sind? Die nationalistische Drift ist längst der weltoffen-hypermoralischen gewichen. Eine größere Narration über die Gegenwart fände hier den Stoff, der noch der Bearbeitung harrt.

Auch in stilistischer Hinsicht sind Kontinuitäten offenkundig. Schlink bildet meist schlichte Sätze, seine Sprache ist einfühlsam. Wie kaum ein zweiter versteht er es, Zärtlichkeit in Worte zu fassen. Die Identifikation mit Figuren wie Olga fällt nicht schwer. Andere Gestalten hätten stärker konturiert werden können.

Fazit: Schlink schafft es, den Leser in den Erzählsog hineinzunehmen und in seinen Bann zu ziehen. Die Lektüre lohnt, sollte aber nicht mit zu vielen Erwartungen überfrachtet werden.

Bernhard Schlink: Olga. Diogenes-Verlag, Zürich 2018, gebunden, 320 Seiten, 24 Euro