© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/18 / 12. Oktober 2018

Die Gegenwart der Termiten
Massen-Typologie: Zur Erinnerung an den Schriftsteller Friedrich Reck-Malleczewen
Thorsten Hinz

Vor einem halben Jahr erschien Monika Marons Roman „Munin oder Chaos im Kopf“, ein literarischer Befund über das Deutschland der offenen Grenzen. Die Ich-Erzählerin fühlt ihre Welt aus den Fugen geraten, sie registriert Unsicherheit, Irritationen, sogar Anzeichen von Wahnsinn, die in das Kapillarsystem des Alltags eindringen. Die Gereiztheit geht in Aggressionen über, die Zunder für eine allgemeine Explosion bilden (Leben in der Vorkriegszeit, JF 17/18). Nur ist die Ich-Erzählerin sich nie völlig sicher, ob die Gründe für ihre Beklemmung tatsächlich in den äußeren Umständen liegen oder nicht eher bei ihr, in ihrer womöglich überspannten Wahrnehmung. Schließlich verzeichnet sie einen enormen Verbrauch an Gin Tonic.

Sechs Monate später, nach Chemnitz und Köthen, kann man mit Gewißheit sagen: Es liegt nicht am Alkohol. Außerdem ist es noch viel schlimmer. Mit Begriffen wie vor-, sub- oder neototalitär soll man vorsichtig sein, aber wenn es Politik und Medien gelingt, die harten Fakten – zwei Tote, zwei Schwerverletzte und die dafür ursächliche Politik – zum Verschwinden zu bringen und stattdessen Halluzinationen – Hetzjagden, Pogrome – als Realität in Millionen Köpfe zu pflanzen; wenn der Widerspruch eines Fachbeamten als quasi strafwürdiges Vergehen sanktioniert und gleichzeitig die braune Fata Morgana als Ausgangspunkt für wochenlange Debatten und politische Weichenstellungen – etwa die Observierung einer demokratisch legitimierten Oppositionspartei – dient, dann eröffnen sich düstere Perspektiven, und die Literatur steht vor der Frage, mit welchem Sound sie diesem Irrsinn begegnen kann.

Parabel auf moderne Terrorstaaten  

Ein denkbares Modell bietet das Buch „Bockelson. Geschichte eines Massenwahns“ von Friedrich Reck-Malleczewen, das erstaunlicherweise 1937 in Deutschland erscheinen konnte. Der 1884 geborene Autor, von Haus aus ein Unterhaltungs- und Reiseschriftsteller, reifte nach 1933 zu einem präzisen Beobachter, Chronisten und Analytiker des Dritten Reiches. Sein „Tagebuch eines Verzweifelten“, das nach Kriegsende veröffentlicht wurde, ist eine bewegende Flaschenpost aus der „Inneren Emigration“. Ende 1944 wurde Reck-Malleczewen aufgrund einer Denunziation verhaftet und starb anderthalb Monate später im KZ Dachau. 

„Bockelson“ erzählt vom Reich der Wiedertäufer in Münster 1534/35 in teils romanhafter, teils essayistischer Form. Die freihändige Historiographie liest sich als Parabel auf moderne Terrorstaaten und streckenweise als Allegorie auf Deutschland unter dem Nationalsozialismus. Einleitend entrollt der Autor ein Zeitpanorama: Die Glaubensgewißheiten sind dahin, die Einheit der Kirche ist zerbrochen, jenseits des Atlantiks tut sich eine neue Welt auf, die Individuen sind der „Formlosigkeit und einem heillosen Individualismus“ preisgegeben. In Münster herrscht Endzeitstimmung, die eine panische Erlösungssehnsucht hervorruft. Ein charismatischer „Modepastor“ vertritt einen häretischen, von Luther abweichenden Protestantismus, verwirft die Kinds- und ersetzt sie durch die Erwachsenentaufe. Er verändert den Ritus des Abendmahls und gewinnt als Hyper-Reformator vor allem unter den Frauen eine fanatische Anhängerschaft, die sich durch Zuwanderung stetig vergrößert.

In dieser überhitzen Atmosphäre treffen zwei führende Köpfe der niederländischen Täuferbewegung in Münster ein. Einer von ihnen ist der 23jährige Jan van Leiden, genannt Bockelson, ein Schneidergeselle, Spelunkenwirt, rhetorisch begabter Komödiant. Sie schimpfen Zeter und Mordio über das sündige, reiche Münster, worauf wohlhabende Frauen ihre Juwelen bei ihnen abliefern. Darauf setzt es zu Hause zwar Prügel, und der Magistrat möchte die zwei dubiosen Gesellen gern ausweisen, doch angesichts ihrer wachsenden Anhängerschaft wagt er keine Kraftprobe. „Er unterhandelt, redet von ‘friedlich und freundlich nebeneinander leben’ ...“ Unter dem Ruf „Bessert euch, tut Buße“ gewinnen die Wiedertäufer und mit ihm der Pöbel weiter Macht, Gerüchte über eine Bartholomäus-Nacht an den „Altgläubigen“, zu denen die Protestanten so gut wie die Katholiken zählen, machen die Runde. Viele von ihnen verlassen die Stadt unter Hinterlassung ihrer Habe.

Während Münster von außen belagert wird, läßt Bockelson sich als Johann I., „König von Zion“, ausrufen. Er installiert einen prächtigen Hofstaat samt 12 Apostel als Rat, lebt in Saus und Braus, während er der Gemeinde die Gütergemeinschaft und die Abschaffung des Geldes verkündet. Ein rigides Tugendregime wird eingeführt, Archive werden verbrannt, Kunstwerke zerstört, Bücher verboten. Die Altäre werden besudelt, in den Kirchen finden Orgien und blasphemische Messen statt. Ein Dekret löst die alten Ehebande, gleichzeitig wird die Ehepflicht verkündet und die Vielweiberei erlaubt. Bockelson verfügt über einen Harem mit 16 Frauen, darunter Angehörige der Oberschicht und ehemalige Nonnen. Kinder werden zu „kleinen Bestien“ und überwachen die Gesetzestreue der Erwachsenen. Je enger sich der Belagerungsring um Münster zieht und Hunger und Not in der Stadt herrschen, beherrschen Denunziation, Gewalt und Angst den Alltag und erweist der Gottesstaat sich als blankes Terrorregime. Bis zum bitteren Ende.

Reck-Malleczewen erwähnt Calvin und Cromwell, er zieht Vergleiche zur Revolution von 1789 und zu den Praktiken der Bolschewisten, aber gemeint ist auch – und erst recht – das Dritte Reich, dessen Ende und Art des Scheiterns er bis in Einzelheiten geradezu seherisch vorweggenommen hat. Der Praktikant Dusentschnuer, Bockelsons Chefpropagandist, wird als Goebbels-Abbild, als „hinkender Prophet“, eingeführt. Das Buch und seine Edition waren nicht weniger tollkühn als zwei Jahre später Ernst Jüngers „Marmorklippen“. Aber Reck-Malleczewen ging es um mehr als um die NS-Diktatur. Das Wiedertäufer-Reich erscheint bei ihm als eine frühe Entäußerung der Massengesellschaft, die das 20. Jahrhundert bestimmte.

In der Denktradition Oswald Spenglers

Im Essay „Das Ende der Termiten. Ein Versuch über die Biologie des Massenmenschen“, der ebenfalls posthum nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurde, stellte er sich explizit in die Denktradition Oswald Spenglers, Gustave Le Bons „Psychologie“ und Ortega y Gassets „Aufstand der Massen“. Der Termiten-Vergleich eignet sich, weil es sich um staatenbildende Insekten handelt, die das Holzwerk von innen völlig zerfressen, die äußere Oberfläche aber verschonen, so daß scheinbar unversehrte Gegenstände bei geringer Erschütterung zusammenbrechen.

Reck-Malleczewen verstand unter Menschen-Termiten die „punktförmig Lebenden“, die durchaus qualifiziert und als „Spezialisten aller Art, als Universitätslehrer, Wirtschaftsführer und Ingenieure“ tätig sein konnten. Als Symptome moderner Termitengebilde nannte er den „psychotischen Nationalismus“, sexuelle Hemmungslosigkeit sowie „die Aufkündigung des Magischen und die Liquidierung aller historischen Bindungen“. Der Termiten-Mensch sei von Haß „gegen die ihm unerreichbare und sein tiefes Minderwertigkeitsgefühl weckende Dämonie des Geistigen“ getrieben.

Der Essay wurde fast siebzig, der „Bockelson“ gut vierzig Jahre nicht mehr aufgelegt. Erst 2015 wurden beide Bücher vom Antaios-Verlag wieder zugänglich gemacht. Die Ignoranz dürfte auch damit zusammenhängen, daß Reck-Malleczewens Massen-Typologie auch die demokratische Staatsform nicht schont. Die von Wahn erfüllte Psyche benötigt für den Ausbruch nur den Anlaß und Vorwand, während die Ideologie austauschbar ist.

Vor drei Wochen lärmten rund hundert Demonstranten im Münsteraner Rathaus, um einen Ratsantrag der SPD zu unterstützen, die Stadt solle ihre Bereitschaft erklären, bis zu hundert aus Seenot gerettete Flüchtlinge freiwillig aufzunehmen. Ein knapp vier Minuten langes Video auf Youtube dokumentiert eine bruchlose Fortsetzung des „Refugees Welcome“-Deliriums von 2015. Unterbrochen von rhythmischem Klatschen, skandierten die überwiegend jungen Teilnehmer: „Seenotrettung ist kein Verbrechen“ und „Ganz Münster haßt die AfD“: Wiedergänger der „kleinen Bestien“ von vor 500 Jahren, kenntnislos und indoktriniert bis zum Fanatismus.

Das Termiten-Motiv tauchte 2005 in Uwe Tellkamps Roman „Der Eisvogel“ wieder auf. Ein Naturwissenschaftler mit „kornblumenblauen Augen“ doziert über die „staatenbildenden Insekten“, die allerdings sterben, „wenn ein Sonnenstrahl sie trifft“. Die einzelne Termite ist „blind, waffen- und flügellos“, ihre Existenz verdankt sie allein dem „Geist des Termitennestes“. Es handele sich um „einen Kommunismus des Schlundes und des Eingeweides“, in dem „alles eßbar (ist)“. Das kann man als Gleichnis auf den regressiven Massen-Menschen verstehen, der aus geschichtlichen Zusammenhängen und kulturellen Höhen in die oralen Phase zurückgefallen ist. Vielleicht liegt hier der Ansatz für eine Ästhetik, die in der Lage ist, den aktuellen Wahnsinn zu erfassen.

Friedrich Reck-Malleczewen: Tagebuch eines Verzweifelten. Zeugnis einer inneren Emigration.  Edition monacensia (Allitera) 2015, broschiert, 200 Seiten, 16,90 Euro

Friedrich Reck-Malleczewen: Bockelson. Geschichte eines Massenwahns. Roman. Edition nordost 2015, broschiert, 272 Seiten, 19 Euro