© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/18 / 28. September 2018

Pankraz,
Renzo Piano und der Richter als Gastwirt

In Paris wird jetzt mit großem Aplomb der riesige neue Justizpalast eingeweiht, die „Cité iudiciaire de Paris“, wie der Gebäudekomplex offiziell heißt. Er soll den zu klein gewordenen bisherigen zentralen Justizpalast im Inneren der Stadt ersetzen;  viele Richter von dort werden in die „Cité“ umziehen müssen, welche in einem trostlosen Gelände „weit draußen“ liegt, an der Porte de Clichy direkt an der Grenze zu der berüchtigten Vorortgemeinde („Banlieue“) Saint-Denis, wo die arabische Mafia regiert und die reguläre Polizei sich nicht mehr hingetraut.

Renzo Piano, der italienische Stararchitekt, der seinerzeit in Paris auch das Centre Georges-Pompidou errichtete, zeichnet verantwortlich für die vielen Neuerungen in der Cité iudiciaire. Seine größte Pointe ist, daß es in ihr keine Richtertische mehr gibt, sondern nur noch kreisrunde Tische auf gleicher Ebene, an denen sich künftig alle Prozeßteilnehmer zusammensetzen sollen. Richter. Kläger, Staatsanwälte, Angeklagte, Verteidiger in bunter Reihenfolge, um den jeweils  anstehenden Fall in trauter Gemeinsamkeit zu beraten und zu entscheiden.

Was in der Beschreibung als bloße Karikatur erscheint, soll nun also in Paris tagtägliche justitielle Wirklichkeit werden. Das bis jetzt vernehmbare Echo in der Öffentlichkeit war überwiegend positiv. Zwar haben einige Richter schon gegen die „runden Tische im Schatten von Saint-Denis“ protestiert, aber die Stimmen in den linken und auch in den schlicht populären Zeitungen klangen wohlwollend. Ja, hieß es, die künstlich erhöhte oder sonstwie extra markierte Richterbank sei „wichtigtuerisch“ und der Wahrheitsfindung eher abträglich. Besonders die Angeklagten würden dadurch von vornherein diskriminiert.


Man kann es, findet Pankraz, freilich auch ganz anders sehen. Nicht die Angeklagten werden durch Renzo Pianos Einfall  diskriminiert, sondern einzig die Richter! Diese sind ja keine bloßen Prozeßteilnehmer, sondern faktisch der Prozeß selbst. Kläger und Angeklagte, Staatsanwälte und Verteidiger verkörpern je eigene Interessenlagen, der Richter hingegen ist (sollte es jedenfalls sein) einzig dem Gesetz verpflichtet, das er anzuwenden und auszulegen hat. Durch den runden Tisch wird er gewissermaßen zum bloßen Gastwirt degradiert, einer Quasselstrippe unter anderen nebst Bierausschank.

Dies festzustellen bedeutet keineswegs, den Richterstand in toto mit einer Gloriole zu versehen, fast im Gegenteil. Die Welt ist voll von Diktaturen und Zwangsregimen, und sie alle erlassen Gesetze, die mit Moral nichts zu tun haben, nicht einmal etwas mit simpler Anständigkeit oder gesundem Menschenverstand. Und immer finden sich Richter, die solche Gesetze eilfertig auslegen und vorschreiben, sie schönreden und mit der Aura des „Rechts an sich“ umkleiden. Man muß es wohl konstatieren: Im Rich-terstand tummeln sich viele dubiose Gestalten, haben sich immer darin getummelt.

Allerdings gibt es dort  – speziell in Staaten mit demokratischer Gewaltenteilung – auch nicht wenige Lichtgestalten, die hoch gelehrt und mutig zugleich sind, die genaueste Gesetzeskenntnis und echtes Rechtsbewußtsein treulich miteinander verbinden und sich nicht scheuen, nötigenfalls auch höchste Würdenträger des Staates, dem auch sie selbst dienen, vor eventuellen Rechtsbrüchen zu warnen oder sie für vergangenen Rechtsbruch zu kritisieren. Sie wissen genau: Ein Richter, selbst einer mit höchster Gehaltsstufe,  hat nur einem „Establishment“ zu dienen, und dieses heißt Herrschaft des Rechts.

Ein Richter im Rechtsstaat ist kein Vollzugsbeamter wie in der Diktatur, sondern er ist eine Art Philosoph oder Theologe, der etwas erforscht, zumindest erspürt, was vorher nicht da war. Gewiß, er hat die Welt der Paragraphen und Gesetzesbücher, an die er sich halten muß. Aber auch noch so viele Paragraphen können nicht sämtliche Valeurs eines jeweils aktuellen Falles abdecken. Deshalb die Notwendigkeit der Auslegung, deshalb überhaupt das Amt des Richters, der niemals, noch von keiner Kultur, als bloßer „Paragraphenhengst“ gesehen wurde, dem immer auch eine Aura übersinnlicher Macht zugebilligt wurde.


Vom übrigen Gerichtssaal  deutlich abgegrenzter Richtertisch wie auch die weiteren Elemente, welche die Richter von den anderen Prozeßteilnehmern absondern, sie „privilegieren“, wie der Architekt Renzo Piano und seine staatlichen Pariser Auftraggeber glauben, sind also nichts weniger als Überbleibsel aus vergangenen autoritären Zeiten; sie sind vielmehr notwendige Bestandteile von Rechtsfindung überhaupt. Hingegen das jetzt in dem neuen Justizpalast im 17. Arrondissement verkündete  Prinzip „Runder Tsch“ wird die Rechtsfindung – sollte es konsequent eingeführt werden – eindeutig erschweren. 

Es ist ein Prinzip für Krawallmacher und Möchtegern-Politiker. In Deutschland wurde es nach der Wende 1989 eifrig von jenen Kräften ins Spiel gebracht, die etwas gegen die Wiedervereinigung hatten und die die friedlich-revolutionären, direkt vom Volk inspirierten Vorgänge unterlaufen wollten, indem sie suggerierten, man müsse sich doch erst einmal am „Runden Tisch“ ausführlich aussprechen. Und die Halbdissidentin Bärbel Bohley klagte damals bitterlich, aber öffentlichkeitswirksam: „Wir wollten Gerechtigkeit – und was haben wir gekriegt? Den Rechtsstaat!“

Doch ohne Rechtsstaat ergibt Gerechtigkeit keinen Sinn. „Volle“ Gerechtigkeit gibt es nicht, sie ist pure Utopie und schlägt, wenn man sie auf Erden praktizieren will, wie alle praktizierten Utopien, in ihr genaues Gegenteil um, in Willkür, Grausamkeit, lächerliche Phrasenhuberei. Albert Camus hat das seinerzeit mit hinreichender Deutlichkeit beschrieben. 

Gewöhnlich wird die Dame Gerechtigkeit vor Justizpalästen, wie auch jetzt wieder in Paris, als Statue mit verbundenen Augen dargeststellt, in der einen Hand das Schwert, in der anderen die Kaufmannswaage. Besser wäre  gewesen, einen simplen Richter hinter seinem Richtertisch zu zeigen.