© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

Der Flaneur
Schnecken und Falläpfel
Paul Leonhard

Wie die meisten meiner Mitmenschen gehe ich mit halb gesenktem Blick auf dem Fußweg. Allerdings starre ich nicht auf ein Smartphone, sondern beobachte ein kleines Mädchen, das vor mir läuft und dessen Aufsichtspflicht mir obliegt. Immer wieder bleibt die Kleine stehen, weil es aus einer Entfernung von 80 Zentimetern auf dem Boden viel mehr Spannendes zu entdecken gibt als aus meiner Höhe.

Bunt gefärbte Blätter beispielsweise. Die Kleine trägt ein gelbgrünes Lindenblatt noch eine ganze Weile mit sich herum. Dann sind es Eicheln, die noch Hut und Stiel tragen. Ich zeige auf den dazugehörigen Baum. Natürlich muß ich das Mädchen hochheben, damit sie sich das ganz aus der Nähe ansehen kann. Prompt versucht sie ein paar abzureißen, aber die Zweige widerstehen der Kraft der kleinen Finger.

Das Mädchen will auch eine vom Boden aufgesammelte Haselnuß, spuckt sie aber schnell wieder aus.

Weiter geht es. Es knirscht unter meinen Füßen. Ich habe eine Gartenschnecke übersehen und ihr buntes Gehäuse zertreten. Dafür sehe ich sie jetzt überall. Der kurze Regenguß hat sie aus ihren Verstecken getrieben. Ich packe eine mit spitzen Fingern am Gehäuse und reiche sie dem Mädchen. Die schaut sich alles genau an, als aber die Schnecke beginnt, vorsichtig ihre Fühler auszustrecken, wirft sie das Tier schnell weg.

Ebenfalls in der Hocke entdecke ich Haselnüsse am Boden. Auf die darf man treten, sage ich und zerbreche mit dem Schuh die äußere Hülle und puhle den Kern heraus, stecke ihn in den Mund. Das Mädchen will auch eine, spuckt die Nuß aber schnell wieder aus. Während ich mir weitere suche, kommt sie strahlend mit einem rotbäckigen Apfel an, den sie aus dem Gestrüpp geangelt hat. Wo kommt der nur her?

Vom Apfelbaum des Nachbargrundstücks. Ich wische die Schale ab, und die Kleine nagt erfreut an der Frucht. Anschließend muß ich noch mehr einsammeln, und dann sagt sie „Mama“. Klar, auch meine Frau soll in den Genuß frisch gesammelter Äpfel kommen.