© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

Die gegen den Strom schwimmen
Die „Weiße Rose“ im Kampf der Deutungen: Zum hundertsten Geburtstag von Hans Scholl
Robert M. Zoske

In diesem Jahr jährt sich zum fünfundsiebzigsten Mal die Hinrichtung der Geschwister Scholl und ihrer Mitstreiter im Widerstandskreis Weiße Rose (JF 8/18). Am 22. September 2018 ist zudem der hundertste Geburtstag von Hans Scholl.

Bereits vor fünfzig Jahren gedachte man der Freiheitskämpfer. Im Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) hatten sich Professoren, Studenten und Stadtvertreter versammelt. Doch die Feier wurde massiv gestört. Von der Empore flatterten Flugblätter. Aber es waren nicht die von 1942/43, sondern aktuelle. Auf ihren Transparenten und in Sprechchören warfen Studenten den Anwesenden vor, als Täter verlogen ihre Opfer zu feiern. Die Kontinuität der LMU mit der NS-Zeit sei personal und politisch evident. „Mörder feiern ihre Opfer“ wurde skandiert und „Wer den Widerstand feiert, unterdrückt ihn heute“. Die Störenfriede wurden hinausgedrängt. Doch der Schock saß tief: Bis 1980 wurde der Weißen Rose nicht mehr im Lichthof gedacht.

Die treibende Kraft des Münchner Widerstands

Die Protestierer beließen es 1968 nicht bei der einen provozierenden Aktion. Unter dem Namen „Antifaschistische Hochschulwoche Geschwister Scholl“ organisierten acht Hochschulgruppen Gegenveranstaltungen. Plakate riefen mit einem nur leicht modifizierten Hakenkreuz dazu auf, „Gegen Restauration und Neonazismus in der BRD“ Widerstand zu leisten. Dokumentarfilme, „Kritische Arbeitskreise“ und „Report-Lesungen“ beschäftigten sich mit dem „gegenwärtigen Faschismus“. Die Geschwister Scholl wurden – wie in der DDR – als Leitbilder im antikapitalistischen Kampf gesehen, als Märtyrer, die für ihre politischen Überzeugungen starben. Offiziöse und familiäre Erinnerer waren entsetzt. Das Gedächtnis der Weißen Rose war schon früh von selbsternannten, verdrucksten Gralshütern umstellt.

Heute vergleichen manche die Bundesrepublik aufgrund ihrer Asylpolitik mit den dreißiger Jahren: „Unser Land ist auf dem Weg in eine neue Form des Faschismus“, urteilt die Rechtsanwältin und sozialdemokratische Flüchtlingshelferin Hendrikje Blandow-Schlegel. Andererseits meint nicht nur ihr Problemgenosse Thilo Sarrazin, Deutschland schaffe sich aus diesem Grunde ab oder werde feindlich übernommen. So montierte ein Nürnberger Kreisverband der AfD im Herbst 2017 ein Foto Sophie Scholls mit einem Zitat aus dem ersten Flugblatt und behauptete, sie wählte heute diese Partei. Im Internet werden Aufkleber und Shirts vertrieben, auf denen steht: „Hans und Sophie Scholl – wir würden AfD wählen.“ Peter Steinbach, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, urteilt, das sei „der absurde Versuch, die Weiße Rose politisch für sich zu vereinnahmen“, es sei „historisch-politische Erbschleicherei“, und Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung meint: „Sie würde es nicht tun; sie würde einer AfD, die im Innersten immer radikaler wird, sagen: ‘Wir sind euer böses Gewissen’.“

Die Weiße Rose als Vorbild linker Antifaschisten oder rechter Nationalisten – das markiert die äußersten Deutungsmuster. Dazwischen liegt die Ansicht, die Gruppe sei gegen „Rassismus, Ausgrenzung und Intoleranz“ gewesen (Weiße Rose Gemeinschaft) oder sie stünde für „Toleranz, persönliche Verantwortung, geistige Unabhängigkeit“ (Weiße Rose Stiftung). Sobald dieser moralische Mainstream inhaltlich konkret wird, fallen Anschuldigungen, es wird von Instrumentalisierung, Vereinnahmung durch den Gegner gesprochen. So findet die Konstanzer Historikerin Miriam Gebhardt, die Heiligsprechung von Scholls tieffrommem Weggefährten Alexander Schmorell durch die Russisch-Orthodoxe Kirche sei „Mißbrauch“, und der Tübinger Pädagoge Ulrich Herrmann empört sich, die Schilderung der Bisexualität Hans Scholls sei „Verleumdung“. 

In der breiten Öffentlichkeit ist das Bild der Studenten durch drei Filme geprägt: „Die weiße Rose“ von Michael Verhoeven (1982), „Fünf letzte Tage“ von Percy Adlon (1982) und „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ von Marc Rothemund (2005). Alle rücken die Widerständlerin in den Mittelpunkt. Sophie ist Projektionsfläche für allerlei Tugenden, besonders für die der emanzipierten, „starken“ Frau. Ihr werden Worte aus den Flugschriften zugeschrieben, obwohl sie an der Abfassung nicht beteiligt war. Diese verklärende Bewunderung widerspricht klar den historischen Tatsachen, denn die treibende Kraft, der kreative Kopf des Münchner Widerstands, war eindeutig Hans Scholl. Ohne ihn hätte es die Weiße Rose nicht gegeben.

Wer die Weiße Rose verstehen will, muß wissen, wer Hans Scholl war. Die einzigen verläßlichen Quellen sind seine schriftlichen Äußerungen: Briefe, Gedichte, Artikel und die Flugblätter. Wie wurde Hans Scholl zu dem, was er war, und warum ging er in den Widerstand?

Hans Scholls Eltern Robert und Magdalene (Lina) Scholl waren eigenwillige Individualisten, die eher gegen als mit dem Strom schwammen. Robert hielt aufgrund seiner pazifistischen Liberalität, Lina wegen ihres pietistischen Glaubens Distanz zu Mehrheitsmeinungen. Die Kinder lernten von ihren Eltern zu denken und zu glauben.

Hans Scholl war seit 1933 Mitglied der deutschen autonomen jungenschaft (dj.1.11), einem elitären Jugendbund. Seine Mitglieder verstanden sich als national-konservative Revolutionäre, Avantgarde einer neuen Zeit. Parallel dazu stieg er in der Hitlerjugend bis zum Fähnleinführer von hundertfünfzig Hitlerjungen auf und war einer von drei Ulmer Fahnenträgern während des Reichsparteitags 1935. Lange Zeit glaubte Scholl, beides verbinden zu können. Nur wollte er alles intensiver und radikaler machen. 

Für Hans Scholl gab es zeitlebens nur eine „große Liebe“: So nannte er Rolf Futterknecht aus seiner Jungengruppe, mit dem ihn ein fast zweijähriges leidenschaftliches Verhältnis einte. Deshalb verbrachte er siebzehn Tage in Untersuchungshaft. Sechs Monate später sah ein Gericht das als „jugendliche Verirrung“ an und stellte das Verfahren ein. Doch die Erniedrigung, ein „175er“ (nach dem Strafrechtsparagraphen 175, der männliche Homosexualität bestrafte) zu sein, markierte den Bruch Scholls mit der nationalsozialistischen Ideologie. 

Zunächst beugte er sich der heterosexuellen Norm. In den nächsten Jahren hatte er eine Reihe kurzer, stets unglücklicher Beziehungen zu anfangs sehr jungen Mädchen und Frauen. Obwohl in der NS-Diktatur gleichgeschlechtliche Liebe mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft wurde, gibt es klare Indizien, daß Scholl auch diesen Teil seiner Sexualität lebte. So war er mit dem Dichter Ernst Reden und dem Buchhändler Josef Söhngen – beide homosexuell – eng vertraut und lebte monatelang mit Hellmut Hartert, einem Kommilitonen, in einer winzigen Dachmansarde und einem tief verschneiten Ferienzimmer. 

Sein sexueller Zwiespalt hat den Charakter tief geformt

Er wollte dichten, wie der Homoerotiker Stefan George, und er war mit seinem „einzigen Freund“ Alexander Schmorell in inniger Harmonie verbunden. Im Sommer 1941 waren Hans Scholl und Traute Lafrenz ein Liebespaar. Bis ins hundertste Lebensjahr schwieg die 1919 geborene Ärztin über den Trennungsgrund. Dann erläuterte Lafrenz-Page, die seit 1947 in den USA lebt, Hans habe ein „tiefes Problem“ gehabt, das „furchtbar geheim“ bleiben sollte und ihn „sehr plagte“. Seinen Zwiespalt habe er „mit großen Idealen negiert“. Diese Belastung sei für ihn „so wichtig“ gewesen, es habe „seinen Charakter sehr tief geformt“. Da er sich „nie frei geben“ konnte, habe sie entschieden, ohne ihn ihren Weg zu gehen. Seine Bisexualität belastete Hans Scholl, doch letztlich war sie eine Bereicherung. Wie offenherzig könnte er heute leben?

Scholl war extrovertiert und introvertiert. Er ging offen auf andere zu, um sie für sich zu gewinnen, und er wandte sich wenig später nach innen, um auf seine Seele zu achten. Er liebte die Melancholie und das Alleinsein. Die Kontemplation auf einsamen Bergwanderungen war für ihn eine Vorbereitung auf das Tun. Er war ein sensibler Grübler, der dichtete und ein gewissenhafter Moralist, der handelte. Er wollte „ganz leben oder gar nicht“.

Als er in Frankreich im Militärhospital bei Operationen attestierte, war er von der Grausamkeit der Kriegsmaschinerie konsterniert und ihm wurde die Unvereinbarkeit von Militarismus und Humanität deutlich. Krieg war für ihn nicht mehr „der Vater aller Dinge“. Das wurde in Rußland noch verstärkt.

Wie sein halbrussischer Freund Schmorell verehrte Scholl den Mythos Rußland. Der Osten war für ihn die – auch metaphysische – Weite. Dort konnte er für sich sein und die Nähe Gottes ganz besonders spüren. Die Natur des unendlichen Rußlands verkörperte für ihn die Utopie einer unbeschränkten Freiheit, die es in Deutschland nicht mehr gab.

Alle diese Dispositionen und Erfahrungen flossen dann in die sechs Flugblätter ein. Die ersten vier waren von ihm und Schmorell, das fünfte allein von Scholl und das sechste von Professor Kurt Huber. Sie riefen, mit immer stärkerer Diktion, zum Widerstand und zum Sturz Hitlers auf. Hans Scholl verstand sich als Werkzeug Gottes in einem Kampf zwischen Himmel und Hölle, Christ und Antichrist. Er fühlte sich „klein und schwach“, aber er wollte „das Rechte tun“ – und tat es.

Wer über Hans Scholl spricht, sollte deutlich differenzieren: Ist die national-konservative Lebensphase des Revolutionärs von 1936 bis 1940 gemeint, oder die des Verfassers des fünften Flugblatts von 1943, in dem er als Grundlagen eines neuen Europas die Freiheit der Rede, des Bekenntnisses und des Einzelnen fordert? Es gab nicht den einen konstanten Hans Scholl, genausowenig, wie es die eine Weiße Rose gab. Die Gruppe bestand aus sechs Menschen mit durchaus divergierenden politischen Ansichten. Der Widerstand gegen Hitler einte sie.

Was bleibt von Hans Scholl? Es bleibt die Ermutigung, daß es immer Alternativen gibt: Alternativen zu einer Politik, Alternativen zu einer Ideologie und zu gesellschaftlichen Normen. Es bleibt die Ermutigung, daß der christliche Glaube Kraft gibt: Kraft zur Individualität, Kraft zu Widerstand und zum Freiheitskampf. 

Und – wer kann sich auf die Weiße Rose berufen? Daß die Münchner Ereignisse durch die Jahrzehnte so extrem unterschiedlich verstanden werden, zeigt, wie Erinnerung stets auch eine Selbstauskunft des Einzelnen und der Gesellschaft ist. Das Vermächtnis des Widerstands muß immer wieder neu thematisiert und interpretiert werden. Eines wollte Hans Scholl keinesfalls sein: Teil einer Masse, Mittelmaß. Er war kein normaler Deutscher, sondern eine Ausnahmeerscheinung. 

Auf die Weiße Rose des Hans Scholl können sich – im Rahmen von Grundgesetz und UN-Menschenrechten – Individualisten, Freiheitsenthusiasten und Nonkonformisten berufen, alle, die beherzt und unangepaßt sind, die quer oder auch queer denken. Es bleibt die Ermutigung: jedes, jede und jeder kann dem Gewissen, kann Gott mehr gehorchen als den Menschen.






Dr. Robert M. Zoske ist evangelischer Theologe und war bis 2017 Pastor in Hamburg. Er hat über Hans Scholl promoviert und ist Autor des aktuellen Titels „Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biographie“ (Verlag C.H. Beck, München 2018, gebunden, 368 Seiten, Abbildungen, 26,95 Euro).