© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/18 / 21. September 2018

„Gott – Vaterland – König“
Marokko: Der Spagat zwischen Tradition und westlicher Welt gelingt
Claus-M. Wolfschlag

Im Frühjahr konnte man den Eindruck gewinnen, man fahre durch mitteleuropäische Landschaften. Weite Felder, von Bäumen gesäumt, auf denen Kühe grasen. Es hatte viel geregnet, so daß Teile Marokkos ein ungewöhnlich grünes Erscheinungsbild boten, ehe die Sommersonne umbarmherzig zuschlägt. Doch Marokko möchte grüner werden. So fördert der Staat im Rahmen des Planes für ein „grünes Marokko“ diverse Umweltschutzprojekte. Dazu zählen moderne Bewässerungssysteme für die vielfältige Landwirtschaft, die als Haupteinnahmequelle des Landes dient. König Mohammed VI. initiierte die Neupflanzung von Dattelhainen. Seit den neunziger Jahren werden zudem jährlich 30.000 Hektar Wald aufgeforstet.

 Für afrikanische Verhältnisse verdienen die Marokkaner gut. Nach Südafrika liegen die Löhne am zweithöchsten auf dem Kontinent. Doch Marokko bleibt ein Land sozialer Gegensätze. Brettern längst die Mopeds durch die Medina von Marrakesch, so warten daneben weiterhin Esel auf ihr Tagwerk. Die Grundstückspreise sind mittlerweile recht hoch in den Städten. 

Konservative fordern Erhalt des Kulturguts 

Ausgedehnte Villenviertel an Casa-blancas Stadtrand, Golfplätze und Pferderennbahnen stehen im Kontrast zu Slumhütten am Hafen. Deren Areal ist allerdings auf ein Drittel der früheren Größe geschrumpft. Die Regierung fördert Familien, die die attraktiven Innenstadt-Grundstücke verlassen und in eine Sozialwohnung in den Neubaublocks am Stadtrand ziehen. Slumbewohner müssen dort nur 6.000 Euro für den Erwerb der sonst 25.000 Euro teuren Wohnung zahlen. Doch viele Slumbewohner wehren sich, sind ihre Lebensweise gewohnt, fordern Grundstücke im Stadtzentrum. Einige kassieren die staatliche Förderung und veräußern die gekaufte Sozialwohnung, um zurück in die Slumhütten zu ziehen und sich dann erneut entschädigen zu lassen. 

„Es gibt ein Betrugsproblem im Land. Dies zumal es kaum soziale Absicherungen wie Arbeitslosengeld gibt“, erklärt mir Said. Sozialhilfe gibt es nicht. Altenpflege aber wird entweder durch Erspartes finanziert oder von den Kindern übernommen. 

Said stammt aus einem Dorf im Mittleren Atlas, ist in der Schulzeit in eine vom Staat geförderte deutschsprachige Auswahlklasse eingeteilt worden, studierte Germanistik. Da er Deutsch-Lehrer werden wollte, arbeitete er anfänglich an einer Privatschule. Doch dann absolvierte er die staatliche Prüfung zum Fremdenführer. Seitdem ist er freiberuflich tätig, führt große Reisegruppen, aber auch Privatreisende durch sein Land. In Europa war er noch nie, schwärmt aber vom immer grünen Deutschland mit seinen Holzhäusern. 

„Gott – Vaterland – König“ ist eine häufig anzutreffende Losung. König Mohammed VI. steht für eine Modernisierung der Gesellschaft. Dafür findet er viele Anhänger im Parlament, in dem unterschiedliche politische Gruppen, von sozialistisch bis islamisch-konservativ, vertreten sind. „Im Gegensatz zu vielen arabischen Ländern reagiert in Marokko die Politik stets flexibel auf moderne Herausforderungen. So kommt es immer wieder zu großen kontroversen politischen Diskussionen und Verfassungsänderungen“, betont Said. 

Die soziale Problematik des zu schnellen Wachstums zeigt sich allerdings bis heute vor allem im wirtschaftlichen Zentrum des Landes, der von weißen Apartmentblocks dominierten Hafenstadt Casablanca. Verfügte die Stadt Anfang des 20. Jahrhunderts über 20.000 Einwohner, so waren es am Ende der französischen Besetzung eine Million. Heute leben vier Millionen Menschen in der Stadt, die der Staat durch eine geordnete Neubauplanung besser zu ordnen versucht. Teils geht das einher mit einer Gentrifizierung, die nun auch Marokko erreicht hat. 

Die Altstadt des 789 nach Christus gegründeten Fes ist seit 1981 Weltkulturerbe. Doch an dem riesigen Labyrinth aus engen weißen Gassen nagt der Zahn der Zeit. Neben staatlichen Programmen und Unesco-Förderungen kaufen ausländische Investoren immer öfter Häuser auf, sanieren sie aufwendig und machen daraus Hotels. „Einheimische können sich den Aufenthalt dort dann nicht mehr leisten“, erklärt Halid, der als örtlicher Fremdenführer arbeitet. 

Die Ergebnisse der Globalisierung, aber auch eines wachsenden Wohlstands sind in den marokkanischen Städten unübersehbar. Die große Ikea-Filiale in Casablanca wirbt an ihrer Fassade mit einem Regalsystem. An den Rändern der Altstädte sind teils große Shopping-Malls entstanden. Während sich junge Marokkaner in der Borj-Mall in Fes bei Burger King laben, eilt ein strenggläubiger Muslim samt Gattin im Niqab an den großformatigen Unterwäsche-Models vorbei, die die deine Dessous-Filiale  zieren. Kontraste, die nicht untypisch für dieses Land zwischen Tradition und westlicher Welt sind.

Die Produktion und der Verkauf von Burka oder Niqab wurde 2017 verboten, zumal es sich dabei ohnehin um ausländische Importe handelt, die erst nach dem Afghanistan-Krieg der 1980er Jahre eingesickert sind. Zwar trägt die Mehrheit der Frauen Kopftücher, jedoch zeigen auch viele junge Marokkanerinnen ohne Tuch Präsenz im Straßenbild. 

Verfassungsrechtlich herrscht in vielen Bereichen Gleichberechtigung von Mann und Frau. „Aber die Veränderung von Mentalität braucht Zeit“, erklärt Said. Die Mehrehe zum Beispiel war zur Zeit ihrer Einführung vorteilhaft für Frauen, da sie auf diese Weise versorgt waren und erben konnten. Seit den neunziger Jahren sieht sie aber die marokkanische Frauenbewegung nicht mehr als zeitgemäß an und fordert die Abschaffung. Konservativ-islamische Gruppen argumentierten für den Erhalt, da es sich um traditionelles Kulturgut handele. Nach intensiver Diskussion initiierte der König einen Ausschuß, der einen Kompromiß entwickelte. De facto ist demnach die Mehrehe abgeschafft, sie beträgt nur noch 0,7 Prozent der Ehen. Eine zweite Frau bleibt indes erlaubt, wenn der Lebensunterhalt für diese sichergestellt ist, die Erstfrau ihre Zustimmung erteilt und den Behörden ein triftiger Grund genannt wird. Dabei geht es in der Regel um das Kindeswohl, beispielsweise im Fall unehelicher Kinder. 

Das Heiratsalter hat sich nach oben verschoben, das Bevölkerungswachstum hat somit gegenüber den achtziger Jahren deutlich abgenommen. Auch die Scheidungsrate ist gestiegen. „Waren früher sechs bis acht Kinder normal, so gelten heute bereits drei Kinder häufig als zu viel. Zum einen müssen Frauen heute auch arbeiten, um mit einem zweiten Einkommen das teure Leben in der Stadt zu sichern. Zum anderen haben Karriere, Genuß und das Sparen von Geld heute einen höheren Stellenwert als früher“, erklärt Said.

Ein ähnlicher Unterschied zwischen Theorie und Praxis findet sich im Schulsystem, in dem seit 1958 Koedukation herrscht. Seit den achtziger Jahren existiert eine neunjährige Schulpflicht, die aber nicht ausreichend kontrolliert wird. Ab der zweiten Klasse sind Arabisch und Französisch Pflichtfächer an den teils überfüllten Schulen. Der Staat und private Sponsoren unterstützen Schüler, unter anderem durch die jährliche Verteilung von einer Million Schultaschen.

 Allerdings findet eine gesellschaftliche Diskussion statt, daß das Schulniveau seit den neunziger Jahren gesunken sei. „Vielen Reformversuchen von Politikern wird nicht genügend Zeit gegeben“, sagt Said. An Bildung interessierte Familien schickten ihren Nachwuchs deshalb auf Privatschulen, um ihnen bessere spätere Berufsmöglichkeiten zu sichern.

Überhaupt hat man als Reisender zwar kein Gefühl der Unsicherheit, aber das hitzigere Temperament der Marokkaner ist schon zu beobachten. Hier zerren Ladeninhaber in Marrakesch einen renitenten jungen Mann aus ihrem Geschäft, dort prügeln sich zwei in Streit geratene Verkehrsteilnehmer bei Beni Mellal und landen im Gerangel teils auf die Fahrbahn der viel befahrenen Schnellstraße. Halbwüchsige radeln an einer blonden Touristin in Meknes vorbei und werfen ihr Kußhände zu: „I love you, baby.“ Dann lachen sie, während die Frau mit starrer Miene weitergeht.  

Berber finden zu neuem Selbstbewußtsein 

Französisch sprechen die meisten Marokkaner. Neben dem Arabischen hat sich aber auch noch das Berberische in vielen Gegenden gehalten, also die Sprache der nordafrikanischen Stämme vor der arabischen Invasion im Mittelalter. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts erwachen die Berber zu neuem Selbstbewußtsein. So wurden anhand traditioneller Berberteppiche und Schmuckstücke eigene Schriftzeichen entwickelt, die dem Griechischen etwas ähneln. 

Zwar sind Schilder mehrheitlich in arabischen und lateinischen Lettern geschrieben, doch mittlerweile findet man auch die Tifinagh-Schrift an öffentlichen Gebäuden, vor allem Schulen. Für den flächendeckenden Unterricht in Berberisch fehlt indes noch das Lehrpersonal. Zudem gibt es Kritiker, die vor einer Überforderung der Schüler warnen.

Bisweilen fallen Schwarzafrikaner im Stadtbild auf. Solche „Flüchtlinge“ gelangen heute meist über Algerien nach Marokko, von wo sie den Sprung nach Europa versuchen. Sie verdingen sich mit Bettelei oder dem Verkauf gefälschter Waren. Hilfsorganisationen versuchen ihnen Hilfe zukommen zu lassen. „Im Fernsehen waren Reportagen zu sehen, was die Leute auf ihrem Weg nach Marokko teils erleiden mußten. Es gibt ganz schlimme Schicksale“, weiß Said zu berichten.





Marokko: Transit- und Zielland der „Subsaharians“

Marokko, Transit- und Zielland für Migranten (JF 34/18), hat nach Angaben der Morocco World News (MWS) 2018 mehr als 54.000 undokumentierte Einwanderungsversuche vereitelt. Die Behörden überwachen zudem die Sicherheit an der Grenze zwischen Marokko und Spanien, wo intervallartig Hunderte von Migranten versuchen, den hohen Doppelzaun zwischen Marokko und den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla zu überspringen. Laut einem Bericht von El País, der ein vertraulicher Bericht der spanischen Guardia Civil vorlag, organisiert die Mafia die mit Steinen, Stöcken, Kot, Batteriesäure und gebranntem Kalk ausgerüsteten Illegalen. Um einer Gruppe angehören zu können, hätten sie zuvor 200 marokkanische Dirham (18 Euro) zahlen müssen. Laut MWS hat Regierungssprecher Mustapha el-Khalfi am 6. September erklärt, daß Marokko sein Territorium nicht den Menschenhändlernetzen überlassen werde. Dennoch weigere sich sein Land, den „Polizisten in der Region zu spielen.“ Entsprechend findet EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos lobende Worte: „Spanien und Marokko arbeiten bei der Grenzkontrolle kontinuierlich und eng zusammen.“ Im Gespräch mit der Deutschen Welle bezeichnet der Migrationsexperte Mehdi Lahlou (Universität Mohammad V., Rabat) von der EU angedachte Asylzentren als „unrealistisch“. Es gebe einen „verstärkten Rassismus gegen die Migranten in Marokko aus Angst vor Wettbewerb und Armut“. Nichtsdestotrotz, so Lahlou weiter, kämen immer mehr Migranten aus Subsahara-Afrika, weil „Arbeitslosigkeit, Wüstenbildung und politische Krisen in Ländern wie dem Tschad, Kamerun und Nigeria zugenommen“ haben.