© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/18 / 14. September 2018

Als die Schlangen kannibalistisch wurden
Die eigenartige Symbiose von Vogelkolonien und Wassermokassinottern in Florida
Kai Althoetmar

Ein wenig klingt die Geschichte wie aus einem Roman von „Jurassic Park“-Autor Michael Crichton. Sie spielt auf der Schlangeninsel Seahorse Key vor der Nordwestküste Floridas, wo während der Indianerkriege Seminolen interniert waren, im Sezessionskrieg ein Militärgefängnis stand und die US-Marines später ein Versuchslabor unterhielten. Menschen leben dort nicht mehr, der Leuchtturm von 1854 ist außer Betrieb, das Inselinnere ist Sperrgebiet. Es geht um eine aasfressende Viper, die mit Wasservögeln eine sonderbare Symbiose eingeht, das mysteriöse Verschwinden der Vogelkolonien und den anschließenden Kollaps der Schlangenpopulation, der in den Kannibalismus führte.

Ihr Rachen ist weiß wie Baumwolle

Die lebendgebärende Schlange heißt im Deutschen Florida-Wassermokassinotter (Agkistrodon conanti), die Amerikaner nennen sie Cottonmouth, weil die Innenseite ihres Rachens, den sie bei Belästigung drohend aufreißt, weiß wie Baumwolle ist. Bislang galt sie als eine von drei Unterarten der Wassermokassinschlange, die im gesamten Südosten der USA vorkommt. 2014 haben Gen-Untersuchungen gezeigt, daß sie eine eigene Art ist. Sie gehört zu den Grubenottern und lebt als weltweit einzige Vipernart zwischen Land und Wasser.

Gegenüber Menschen ist die Lauerjägerin weniger aggressiv. Ihr Toxin kann zwar Gewebe zerstören, Todesfälle durch Schlangenbisse in den USA gehen aber fast immer auf das Konto von Texas-Klapperschlangen. Ausgewachsene Wassermokassins sind blauschwarz gefärbt, Jungtiere tragen ein rotbraunes Zackenmuster auf fleischfarbenem Grund. Schon seit den 1930er Jahren werden die gesamten Cedar Keys im Golf von Mexiko zoologisch erforscht. Kolonien von Braunpelikanen, Schneesichlern und Kormoranen bilden im dortigen Wildschutzgebiet eine eigentümliche Symbiose mit den reichlich vorkommenden Wassermokassinschlangen. Die Vipernkolonie auf Seahorse Key, ihrem wichtigsten Habitat, umfaßte zeitweilig rund 600 Vipern auf gerade einmal 1,65 Quadratkilometern Fläche, in manchen Abschnitten betrug die Populationsdichte gar bis zu 22 Exemplaren je Hektar.

10.000 Vögel brüteten jedes Frühjahr auf Felsen und in den Mangroven. Danach ziehen sie im November fort. Die Schlangen profitieren von den Fütterungen der Nestlinge, wenn halbe Fische tot ins Wasser plumpsen oder die Jungvögel Futter herauswürgen. Sie konzentrieren sich oft unterhalb der Nester, um Fischaas zu ergattern und legen sich so die Fettreserven zu, die sie für die Zeit der Winterruhe, wenn die Vögel weg sind, brauchen. Daneben fressen die bis zu zwei Meter langen Mokassins auch kleinere andere Schlangen, frisch geschlüpfte Alligatoren und andere Echsen sowie invasive Ratten – allesamt potentielle Nesträuber, die sich an Eiern und Nestlingen vergreifen. Die Wassermokassin­ottern selbst gehen nicht an die Eier oder die Brut heran – ganz im Gegensatz zu Giftschlangen anderswo auf der Welt.

Die Viper-Vögel-Symbiose endete im April 2015 jäh, als die Vögel aus unerfindlichen Gründen ihr Brutgeschäft abbrachen und binnen weniger Tage fortzogen. Wissenschaftler wissen bis heute nicht, warum. Ein Team von US-Biologen fand aber nun heraus, was in der Folge mit der Wassermokassinotterpopulation geschah: Sie kollabierte und es kam zu Kannibalismus. Im Journal of Zoology (4-304/18) stellte das Team um den US-Zoologen Mark Sandfoss von der University of Florida in Gainesville seine Forschungsergebnisse vor.

Sie schritten für ihre Studie kartierte Beobachtungsrouten auf der Insel ab und zählten die kaum menschenscheuen Wassermokassinottern. Die Bestände, so zeigte sich, waren gegenüber einer Zählung, die vor dem Vogelexodus erfolgt war, um 32 Prozent eingebrochen. Am härtesten traf es die Neugeborenen. Ihre Zahl sank um 93 Prozent. Die Forscher schließen daraus, daß die weiblichen Schlangen wegen des reduzierten Nahrungsangebots die Reproduktion weitgehend eingestellt haben. Auch sei der Fortpflanzungsdrang der Männchen bei Futtermangel gedämpft.

Dagegen gab es an Sichtungen halbwüchsiger Mokassins mehr als eine Verdoppelung. Der Grund: Die Jungen, noch vor dem Vogelexodus geboren, gingen dazu über, vermehrt Frösche und Eidechsen zu erlegen und hielten sich so gerade am Leben – eine Kost, die ausgewachsene Vipern nicht über die Runden bringt. Etliche verlegten sich auf Kannibalismus – die Schlangen fraßen einander, wie die Forscher in mehreren Fällen beobachteten. Zudem fanden die Biologen zahlreiche kurz zuvor verendete sowie bereits skelettierte Vipern.

Sind Waschbären oder Hubschrauberflüge schuld?

Die Wissenschaftler sammelten 2015 und 2016 auch 29 Schlangen ein, maßen und wogen sie und markierten sie mit Transpondern, kleinen Funksignalgeräten. Nach dem Fortzug der Vögel zeigte sich, daß die noch vorhandenen Schlangen dramatisch an Gewicht und Größe eingebüßt hatten. Ihre Population war vor allem auf der westlichen Inselhälfte, wo die Vögel gebrütet hatten, deutlich geschrumpft. 91 Prozent der analysierten Tiere waren in miserabler Verfassung, auch juvenile Tiere und Neugeborene. Aus einer älteren Studie hatte man auch hierzu Vergleichswerte. Seit 1999 hatten Forscher insgesamt 494 Wassermokassins gefangen und untersucht.

Sandfoss hat die Vogel-Viper-Symbiose zum Thema seiner Doktorarbeit gemacht. Sein Doktorvater Harvey Lillywhite, mit dem Sandfoss zuvor schon giftigen Plättchen-Seeschlangen vor der Küste Costa Ricas nachspürte, stapfte mit durchs Schlangenterritorium. „Ich habe eine Menge Respekt vor Giftschlangen“, berichtet Sandfoss. Sie seien „wundervolle Tiere“. Als die Wasservögel noch auf Seahorse Key gewesen seien, „mußte man aufpassen, wo man hintritt – eine Schlange konnte überall sein“.

Auf der drei Kilometer entfernten Nachbarinsel Snake Key gab es eine gegenläufige Entwicklung. Dort hatte sich gut ein Drittel der Vögel, die Seahorse Key verlassen hatten, niedergelassen. Die Mokassin-Population und der Body-Mass-Index der Vipern legten spürbar zu: „Das Überleben der Mehrheit der Wassermokassinottern auf Seahorse Key ist offenbar unmittelbar an die Präsenz der nistenden Wasservögel geknüpft“, folgern die Forscher. Der Niedergang der Vipern-Population sei auf Verhungern zurückzuführen. Die Art sei es zwar gewohnt, während des Winters von Reserven zu zehren. Ohne die Futtergaben der Vögel im Frühjahr und Sommer sei ein Großteil aber zum Verhungern verdammt. Sollten die Wasservögel auf Seahorse Key zurückkehren, werde ihr Brutgeschäft deutlich erschwert sein, denn der Feind ihrer nestraubenden Feinde hat sich rar gemacht.

Warum die Wasservögel verschwanden, läßt Mark Sandfoss noch immer rätseln. Auf Nachfrage bringt er zwei Erklärungen ins Spiel: „Kurz nach dem Fortzug der Vögel wurden auf Seahorse Key acht Waschbären gefangen, die dort gewöhnlich nicht vorkommen und vielleicht die Vögel erschreckt haben“ – denn auch Waschbären plündern Nester. Zudem seien dort zur gleichen Zeit nachts Hubschrauber der Regierung zu Trainingsflügen unterwegs gewesen, was das Brutgeschäft gestört habe. Die Regierung gebe aber keine Daten heraus. Sandfoss, der sich auch als Artenschützer versteht, findet das „frustrierend“. Die Geschichte von der mysteriösen Schlangeninsel wartet noch auf ihr Ende.

„Collapse of a unique insular bird–snake relationship“ von M. R. Sandfoss, im Journal of Zoology (Band 4-304/18, S. 276– 283)

 doi.org